Die Leidenschaft von Egon Martin war immer das Malen, doch als Beruf musste er Elektriker lernen. Foto: Jacqueline Fritsch

Egon Martin gibt im Pflegeheim Kursana in Echterdingen ehrenamtlich einen Malkurs. Die Kunst ist seine große Leidenschaft, doch beruflich hatte der 90-Jährige einen ganz anderen Weg einschlagen müssen.

Echterdingen - In der Wohnung von Egon Martin sieht es genauso aus, wie man es sich bei einem Künstler vorstellt. Ein Bilderrahmen hängt neben dem anderen an der Wand, in der Ecke türmen sich weitere Werke. In der dunklen Dachgeschosswohnung stehen lauter alte Tische, auf denen sich das Papier stapelt. Neben dem kleinen Fenster in der Ecke steht ein alter Sessel. Von dort aus kann Egon Martin die Stephanuskirche sehen, sie ist sein Lieblingsmotiv. Auf einem Stativ steht ein Bild, das er gerade beendet hat; daneben fünf Pinsel und zwei Farbpaletten, darauf bunte, eingetrocknete Flecken. Auf dem Boden sind Zettel und Briefumschläge wild verteilt.

Die Kirche hat er 45-mal in Szene gesetzt

„Ich wollte früher immer Maler oder Fußballer werden“, sagt der 90-Jährige, „aber ich musste dann Elektriker werden.“ Seine Familie hatte nämlich ein Elektronikgeschäft, das er übernehmen musste, als sein Bruder im Krieg gefallen war. „Das war auch ein schöner Job“, sagt er und erinnert sich daran, wie er Schallplatten verkaufte. Heute konzentriert sich der Rentner voll und ganz auf sein Hobby: die Kunst.

Gefühlt ganz Echterdingen hat er schon gemalt. „Da sind in den 30 bis 40 Jahren schon mehr als 500 Bilder entstanden“, sagt er. Allein die Stephanuskirche habe er 45-mal auf Papier und Leinwände gebracht. „Ich male gegenständlich, bin aber kein sturer Häuslesmaler“, sagt er. Neben den Abbildungen von Bauwerken aus Echterdingen finden sich an Martins Wänden auch Kühe auf weiten grünen Wiesen, Blumensträuße in hellem Rosa und Blau oder Motive aus Südfrankreich. Früher habe er viele Ölgemälde angefertigt, heute malt er vor allem mit Wasserfarben. „Öl ist natürlich aufwendiger, aber damit könnte man noch Fehler ausbessern“, erklärt Martin.

Sein aktuelles Bild zeigt seine verstorbene Frau. „Ich habe versucht, sie zu malen“, sagt er, „es ist mir nicht ganz gelungen. Meine Frau war sehr schön.“ Für einen Augenblick wird der fröhliche Mann nachdenklich. Bis er ein anderes Bild entdeckt und wieder in seinen Erklärungen aufblüht.

Mit 90 Jahren noch im Ehrenamt tätig

Jeden Dienstag malt Martin ehrenamtlich mit einigen Bewohnern des Kursana Pflegeheims. Dort arbeitet er an seinen eigenen Werken oder hilft den anderen . Eine Frau zeigt ihm, was sie an diesem Tag gemalt hat und möchte seine Meinung dazu hören. Martin ist zufrieden: „Die Farben harmonieren gut“, sagt er.

Die Bewohner des Pflegeheims malen oft Vorlagen bunt aus. Martin dagegen hat ein komplett weißes Blatt Papier vor sich, eine Fotografie des Rathauses daneben und einen Wasserfarbkasten auf der anderen Seite. Es soll wieder die Kirche werden, nur diesmal mit dem Rathaus daneben. Das Dach und die Fenster des Rathauses sind in einem dunklen Violett auf dem Papier. Auch der Himmel ist bereits in hellem Blau angedeutet.

Er ist ein aufgeweckter Rentner, fit und begeistert. Wenn er ins Kursana kommt, legt er den Weg stets mit dem Fahrrad zurück. Dort angekommen, nimmt er nicht den Fahrstuhl rauf in den zweiten Stock – nicht, solange es Treppen gibt. „Ich bin ja schließlich Sportler“, sagt er und läuft zügig die Treppen hinauf. „Ich sage ja immer: Man muss was tun, solange man es noch kann.“ Deshalb habe er Spaß am Ehrenamt. „Ich bin von dem Gedanken beseelt, irgendwo zu helfen.“ Jeden Montag besucht er einen Kindergarten, malt und singt mit den Kindern. „Noch lieber wäre es mir, wenn ich noch Fußball spielen könnte“, sagt er und lacht. Der Sport war ihm immer wichtig. Heute kann er nur noch Bilder davon malen. Immerhin.

Chaos auf dem Boden dient der Erinnerung

Die Zettel, Heftchen und Briefumschläge auf dem Fußboden dienen dem 90-Jährigen als Gedankenstütze. „Ich muss so aufpassen, dass ich nichts vergesse“, sagt Egon Martin. Ein Gutschein liegt dort, den er zum 90. Geburtstag bekommen hat. Und ein gelbes Heft, auf dem „TV Echterdingen“ steht. „Heute Abend ist ein Mitgliedertreffen“, erklärt er. Der Rentner kann sich auf diese Weise daran erinnern, was er wann zu tun hat. „Weil da geht man ja immer vorbei“, sagt er und ist sichtlich stolz auf seine Gedankenstütze.

Die Stufen bis nach oben in seine Wohnung hat Egon Martin schon etliche Male gezählt: 50 Stück. Die der letzten Etage knarren, wenn er nach oben läuft. Denn eigentlich sollte das Dachgeschoss als Abstellraum dienen, nicht als eigene Wohnung. Vielleicht hat die Wohnung deshalb diese besondere Atmosphäre eines vollgestopften Ateliers, in dem ein fröhlich-zerstreuter Künstler seine Ideen auf die Leinwand bringt.