Ehrenamtliches Engagement für Obdachlose: Julian Tirauf, Michael Fischer, Anna-Sophia Gronbach, Claire Meyer (von links). Foto: Jacqueline Fritsch

Viele Stuttgarter Bürger engagieren sich für andere. Gerade auch Jugendliche. Das sollte viel öfter an- und ausgesprochen werden, findet Lokalchef Jan Sellner.

Stuttgart - Wo kommen Ideale her? Werden sie dem Menschen mitgegeben, ihm eingepflanzt, ihm von irgend woher geschenkt? Oder erschließt er sie sich selbst? Die Frage führt ebenso ins Unergründliche wie die nach der Ursache des Bösen. Lassen wir sie so stehen und nehmen zur Kenntnis, dass es Ideale gibt. Auch die Tatsache, dass sie einerseits belächelt werden, andererseits keine Gesellschaft ohne sie existieren kann – auch keine Stadtgesellschaft. Schon sind wir mitten in Stuttgart.

Dass Stuttgart eine ideale Stadt ist, kann man nicht behaupten. Die Kessellage bringt mindestens so viele Nachteile mit sich wie Vorteile. Das Wohnen in der Stadt ist Luxus, der Verkehr oft eine Zumutung und die Entfernung zum Fluss unüberbrückbar. Was man jedoch behaupten kann, ist dass Stuttgart eine Stadt der Ideale ist oder besser: eine Stadt, in der auffällig viele Menschen ihre Ideale leben. Leider wird das zu selten ausgesprochen. Es dominieren andere Stadtbilder: Stadt des Automobils, Wirtschaftsmetropole, Kulturstadt – wobei auch diese Zuschreibungen Ideale oder Idealvorstellungen beinhalten.

Der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält

Stadt der Ideale – man muss da gar nichts künstlich überhöhen. Es ist eine Feststellung. Sie lässt sich mit Zahlen untermauern: In Stuttgart gibt es rund 3000 Menschen, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Vermutlich sind es noch mehr, weil viele Bürger auf eigene Faust – in dem Fall müsste es heißen – mit ausgestreckter Hand bei der Integration helfen. Die Flüchtlingshilfe ist nur ein Ausschnitt des ehrenamtlichen Engagements, das viele Bürger zeigen. Andere Ausschnitte sind die Jugendarbeit, die Altenbetreuung, die Krankenpflege oder der Hospizdienst.

Wenn man nach dem Kitt sucht, der die Gesellschaft zusammenhält, wird man schnell fündig – besonders auch bei den vielen Vereinen und privaten Initiativen in Stuttgart, von denen zwei gerade ein rundes Datum feiern und deshalb hier genannt sein sollen: „Frauen helfen Frauen“ (40 Jahre) und „Frauen helfen helfen“ (10 Jahre). Man könnte also auch von der Stadt des Ehrenamtes sprechen. Oder von vielen Städten des Ehrenamtes, denn die Bereitschaft, sich für andere einzusetzen, ist glücklicherweise kein Stuttgarter Alleinstellungsmerkmal. Das alles ist bemerkenswert in einer Zeit, in der sich manche gut dabei fühlen, „Gutmenschen“ wie Kasper vor sich herzutreiben.

Spontane Hilfe für Obdachlose

„Ideale sind wie Sterne. Man kann sie nicht erreichen, aber man kann sich an ihnen orientieren“, schrieb der deutsche Revolutionär und spätere US-Innenminister Carl Schurz. Jede Generation entdeckt das neu. Manchmal besteht das Nach-den-Sterne-greifen auch darin, dass man den Blick auf den Boden richtet – zu denjenigen, die auf der Straße leben. Vier Mitglieder der Projektgruppe Jugendrat aus Sillenbuch, Claire Meyer, Anna-Sophia Gronbach, Julian Tirauf und Michael Fischer, haben dies jüngst getan, als sie kurz entschlossen Kartons mit Müsliriegeln, Salzstangen und Wasserflaschen packten und an Obdachlose in der City verteilten. Einfach so.

In diese Kategorie gehören auch Lena Stanislawczyk, Sarah Illi, Ole Bachmayer und Tim Niefer vom Geschwister-Scholl-Gymnasium in Silenbuch. Sie haben eine „nachhaltige Jugendfirma“ gegründet, mit der sie ein bewussteres Reiseverhalten befördern wollen. Apropos nachhaltig. Gerade die jugendlichen Beispiele zeigen: Ideale sind ein ewig nachwachsender Rohstoff. Schön zu sehen, gut zu wissen.

jan.sellner@stzn.de