Drei ehemalige Obdachlose berichten von ihren Erfahrungen in kalten Winternächten.
Rot - Wenn Dieter in seinem knapp zehn Quadratmeter großen Zimmer im Immanuel-Grözinger-Haus (IGH) steht und zum Fenster hinausschaut, dann wandert sein Blick über schneebedeckte Dächer und Wiesen hin zu einem Ort, den nur er sehen kann. „Manchmal wäre es mir lieber, wenn ich wieder in der Natur sein könnte“, flüstert der 53-Jährige, dessen Stimme nicht mehr so richtig mitmacht. Jahrelang hat er auf der Straße gelebt, 2008 zog er in das Männerwohnheim an der Böckinger Straße. „Ich war nicht zimperlich“, erinnert er sich an seine Zeit als Obdachloser und sagt: „Selbst bei Kälte habe ich mich draußen wohl gefühlt und kam immer gut durch den Winter.“
Zehn Jahre auf Platte haben ihre Spuren hinterlassen
Auch Karlheinz verbrachte manchen Winter im Freien. Zehn Jahre hat er Platte gemacht, jedes einzelne davon hat tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Jetzt, da es draußen zweistellige Minustemperaturen hat, ist er froh, im IGH ein Dach über dem Kopf und eine Heizung im Zimmer zu haben. Früher, da war der 64-Jährige zufrieden, wenn er nachts für ein paar Stunden in einer öffentlichen Toilette die schlimmste Kälte vor der Tür lassen konnte. „Tagsüber habe ich so gut wie möglich versucht, mich aufzuwärmen“, erzählt er. In Geschäften, Kneipen oder Schnellrestaurants blieb er so lange, bis er hinausgeworfen wurde oder bis sie schlossen. Danach griff er dann stets zu zwei Hilfsmitteln: dem Alkohol und warmen Klamotten. In die Notunterkunft an der Hauptstätter Straße wollte er nicht. Gewalt und Diebstähle, so sagt er, seien dort an der Tagesordnung gewesen. In der Clique ließe sich das noch ertragen, allein käme man aber schnell unter die Räder. Doch auch unter freiem Himmel hat Karlheinz unschöne Erfahrungen machen müssen, dreimal ist er überfallen worden. „Ich bekam Verfolgungswahn und begann, Stimmen zu hören“, berichtet er. Mindestens ebenso große Angst wie vor weiteren Überfällen hatte er vor der Kälte. „Ich kenne Leute, die so betrunken waren, dass sie es nicht einmal mehr geschafft haben, in den Schlafsack zu kriechen. Am nächsten Morgen waren sie tot“, erzählt er.
Alkohol als Ausweg
Karlheinz und Dieter kennen sich schon einige Jahre. Zusammen waren sie auf der Straße unterwegs, bevor sie dann ins Immanuel-Grözinger-Haus kamen. Dieter hat sieben Entgiftungen hinter sich, immer wieder ist er rückfällig geworden. „Wenn ich morgens aufwache und sehe eine Flasche in Reichweite stehen, greife ich zu“, beschreibt er seine Sucht. Dieter erinnert sich noch ganz genau daran, an welchem Tag er ins IGH zog. Dass seine Mutter gestorben ist, hat er vergessen oder verdrängt, sein Kumpel Karlheinz muss ihn daran erinnern. Ganz genau weiß Dieter noch, wie weit die Quecksilbersäule in der kältesten Nacht seiner Obdachlosenzeit gefallen war. Minus 22 Grad hat es damals gehabt, so stand es zumindest am nächsten Tag in der Zeitung.
Achterbahnfahrt durchs Leben
Mit 13 ins Heim, mit Anfang 20 obdachlos, anderthalb Jahre Gefängnis, immer wieder Alkoholprobleme: obwohl Patrick erst 31 Jahre alt ist, war sein Leben jahrelang eine üble Achterbahnfahrt. Momentan jobbt er auf Ein-Euro-Basis im Immanuel-Grözinger-Haus und lebt in einer kleinen Wohnung in Stammheim. „Ich hatte keinen Bock auf gar nichts“, beschreibt er seine Entscheidung, Platte zu machen. „In Großstädten geht das am besten. Dort kann man leichter an Geld kommen und eine Unterkunft finden“, erzählt der gebürtige Böblinger. Was den Winter betrifft, ist ihm Frankfurt in besonders guter Erinnerung geblieben. Dort kann man sich nämlich für drei Euro pro Nacht einen kleinen Wohncontainer mieten und so der Kälte ein Schnippchen schlagen. Sogar seine geliebte Hündin Lala durfte er mit hinein nehmen. In Notunterkünften war das meist anders. „Entweder beide drinnen oder beide draußen“, lautete seine Devise. Lala musste er zwar abgeben, an ihre Stelle ist nun aber Knöpfchen getreten. „Mein Hund ist meine Familie, sonst habe ich niemanden“, sagt Patrick.
Der Hund als treue Begleiter
Zwei Schlafsäcke, Isomatte, Decke und ein Platz, wo einen weder der kalte Wind noch übereifrige Polizeibeamte stören, das waren für Patrick früher die Garanten für eine Nacht, in der man die Kälte halbwegs ertragen konnte. Nicht zu vergessen ein Gasbrenner, um Kaffee zu machen oder Konserven aufzuwärmen. „Ich werde niemals mehr freiwillig auf die Straße gehen“, sagt er heute. Könnte er sprechen, würde Knöpfchen seinem Herrchen sicher zustimmen. Obwohl ein Hundeleben auf Platte manchmal vielleicht sogar besser zu ertragen ist als ein Menschenleben. Diese Erfahrung hat zumindest Patrick gemacht: „Viele Passanten haben sich damals nicht um mich gekümmert, sondern sich Sorgen um meinen Hund gemacht.“