Der MacGyver der Politik: Kanzlerin und Problemlöserin Angela Merkel Foto: dpa

Nicht eine gewandelte Überzeugung, sondern der Druck im Wahlkampf zwingt Angela Merkel zum Handeln. Aber die Entscheidung über die „Ehe für alle“ ist trotzdem ein Akt der Gerechtigkeit, kommentiert Katja Bauer.

Berlin - Manchmal hört man das Herz der Demokratie schlagen. Dann zum Beispiel, wenn sich völlig überraschend der politische Wille der Mehrheit durchsetzt – und die zuvor unüberwindbar scheinenden Sedimente eines mehltaubedeckten Machtgefüges einfach sprengt. Der Moment, den die Republik gerade mit der Ehe für alle erlebt, ist einerseits so einer. Und er ist gleichzeitig exakt das Gegenteil.

Die Ehe für alle wird kommen. Das ist eine gute Nachricht, denn sie entspricht dem Willen der Mehrheit, gießt Lebenswirklichkeit in Gesetze, ist ein Akt der Gerechtigkeit. Drei Viertel der Deutschen finden es richtig, jeden entscheiden zu lassen, wen er oder sie heiraten will. So wie viele andere Bürger in Europa und der westlichen Welt in mehr als 20 Ländern.

Der Bundestag wird ohne Fraktionszwang abstimmen. Vor Kurzem hätte das noch keiner geglaubt. Wie versteinert lag das Thema auf dem Grunde des Parlaments. Schuld war, das sollte man nicht vergessen, die Koalition der Wegschweiger aus Union und SPD. Erstere folgten der Parteilinie, letztere der Koalitionsräson.

Eine faustdicke Überraschung

Dass nun plötzlich alles fließt, ist weder einer inhaltlich gewandelten Überzeugung der Union geschuldet noch einem in den Koalitionsparteien plötzlich erwachten Wunsch nach Gerechtigkeit. Der Grund ist allein ein knallhartes Machtkalkül, für das mitten im Wahlkampf den Parteien besondere Sensorien zu wachsen scheinen. Schon bei den Grünen – der Partei, die am härtesten für die Ehe für alle gekämpft hat – war es vor Kurzem eher unfallartig zu der Entscheidung gekommen, dieses Thema zur Koalitionsbedingung zu machen. Die FDP zog nach, dann die Sozialdemokraten. Die CDU stand praktisch über Nacht allein. Hilfe, ein Thema mit echtem Gretchenfragenpotenzial! Was tun?

Angela Merkel erwies sich einmal mehr als MacGyver der Politik. Mit einem scheinbar dahingestolperten Satz in einer Sommertalkrunde räumte sie wie der kühlblütige Serienheld das Thema ab gegen zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise matte Widerstände in den eigenen Reihen. Ein Zurück gibt es nicht, auch wenn die Zahl der in Taschen verborgenen Fäuste noch nicht zu überblicken ist. Merkel kann zur Rechtfertigung auf die abgewendete Gefahr verweisen, zumindest zunächst. Was die Kehrtwende für die Wahlkämpfer in der Union bedeutet, welchen Amputationsschmerz die konservative Seele der Partei verspürt, ob Wähler sich deshalb der AfD zuwenden, ist derzeit schwer abzusehen.

Die „Ehe für alle“ schadet niemandem

Was bei allem Machtgeschnatter aber nun erreicht wird, ist ein Meilenstein: Das Parlament wird nach viel zu langer Zeit diese wichtige gesellschaftspolitische Entscheidung treffen. Deutschland wird sich einreihen in die Riege moderner Staaten, für die eine Liebe zwischen Mann und Frau nicht mehr wert ist als die zwischen zwei Männern oder zwei Frauen.

Eine Gewissensentscheidung ist das übrigens nicht – schon deshalb, weil an keiner Stelle die Gefahr besteht, mit der Entscheidung für eine Ehe für alle jemandem zu schaden, weder den Beteiligten noch Dritten. Die Ehe ist eine zivilrechtliche Institution, in der Menschen einander im Verhältnis zum Staat zusichern, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Das wertet die Familie eher auf.

Der Einwand, die „Keimzelle des Staates“ werde geschwächt, geht fehl: Weder werden künftig deshalb weniger Menschen Kinder zeugen, noch hängt Fortpflanzung von Heirat ab. In einem Punkt entscheiden sich Parlamentarier, die Ja sagen, sehr deutlich: Sie widersprechen in der Tat der durch nichts belegten Einschätzung, wonach ein heterosexuelles Paar besser für Kinder sorgen könne als ein homosexuelles Pendant. Wie gut oder schlecht es Kindern mit Eltern gehen kann, sieht man in diesem Land jeden Tag – es hängt beileibe nicht von sexueller Orientierung ab.