Der Komponist Philipp Krebs setzt bei seiner Performance „at close quarters“ einem Klavier mit Schleifmaschinen zu. Foto: Martin Sigmund

Das Stuttgarter Eclat-Festival hat in diesem Jahr nicht nur schillernde Klänge hervorgebracht, sondern auch radikal die Grenzen der Musik ausgetestet. Dabei lagen Scheitern und Gelingen nah beieinander.

Stuttgart - Was gibt’s Neues in der Neuen Musik? Schon im Mittelalter hat ein Theoretiker verkündet, alle Kompositionen früherer Zeiten seien nicht mehr hörens-, also vergessenswert, und für Werke diesseits des frühen 20. Jahrhunderts galt dies lange Zeit auch. Neue Musik, zumal jene, die sich emphatisch mit großem „N“ schreibt, musste erstens immer etwas zuvor Unerhörtes mit klingendem Material anstellen, um vorne, also bei der (mittlerweile stark hinterfragten) Avantgarde, mitmarschieren zu können; und sie musste zweitens unbedingt ihre jeweilige Gegenwart widerspiegeln.

Beides hat man auch beim diesjährigen Stuttgarter Eclat-Festival im Theaterhaus hören können. Da gab es Musik, die ihr klingendes Material durchknetet, immer auf der Suche nach Überraschungsmomenten selbst für Ohren, die Zeitgenössisches gewohnt sind. Und es gab jene Projekte, die seit jeher einen Schwerpunkt der Veranstaltung bilden: crossmediale Werke, in denen sich die Musik auf andere Künste stützt, um zu erreichen, was ihr als wort- und begriffslosem Genre sonst verwehrt bleibt: um klare Aussagen und Positionen nach außen zu tragen.

Die prominenteste Position unter Letzteren nahm jetzt das Projekt „Happiness Machine“ ein, mit dem das Klangforum Wien Christian Felbers Modell der Gemeinwohl-Ökonomie skizziert – eine Theorie, die, kurz und grob zusammengefasst, der kapitalistischen Konkurrenz die Forderung nach Kooperation entgegenstellt. Außerdem porträtiert das Ensemble sich in „Happiness Machine“ selbst. Und, unglaublich: Beides gelingt. Zwischen zehn akustisch-visuellen Projekten, die in enger Zusammenarbeit von Filmemacherinnen und Komponistinnen entstanden, treten Musiker des Ensembles nach vorne und sprechen: über das Miteinander, über den Umgang mit dem Individuum in einer Musikergruppe, über Nachhaltigkeit. „Wie sinnvoll ist es, wenn ein ganzes Ensemble nur wegen eines 30-Minuten-Auftritts nach Tokio fliegt?“, fragt der Manager, „Wo kaufe ich ein, wenn mein Etat begrenzt ist: billig im Internet oder teurer beim lokalen Einzelhandel?“, fragt der technische Leiter. Und die Flötistin: „Wie gehen wir als Ensemble mit dem Älterwerden um?“ Sogar ein Saxofonist, der anderer Meinung ist, kommt zu Wort: „Kunst an sich ist nicht politisch“, sagt er und wehrt sich gegen das Gemeinwohl-Modell.

Film-Musik-Kooperationen aus dem Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft

Manches Statement wirkt ein bisschen arg predigthaft. Und insgesamt hätten die Aussagen gewonnen, wenn man sie aus der umgebenden Kunst herausgehoben, also im natürlichen Rohzustand belassen und nicht noch zusätzlich inszeniert hätte. Dass das Projekt insgesamt aber starke Wirkung entfaltet, hat mit der Kunst selbst zu tun. Wundervoll spielerische Film-Musik-Kooperationen aus dem Spannungsfeld von Einzelwesen und Gemeinschaft sind hier zu bestaunen, die spürbar aus einem Miteinander der beteiligten Künstlerinnen heraus entstanden. Auch wenn, weil die menschlichen Sinne nun einmal so funktionieren, die optischen Reize die akustischen überlagern, auch wenn man die Musik also meist nur als Farbe zum Bild wahrnimmt, hört man die Stärke der Kompositionen, unter denen jene von Iris der Schiphorst wohl den freiesten, vielleicht auch radikalsten Umgang mit den Trickfilm-Bildern (hier: von Michelle Kranot) pflegt.

Nach knapp drei Stunden verlässt man den Saal erfrischt und bereichert. Bei der nur halbstündigen Performance von Philipp Krebs („at close quarters“), bei der es vor allem um das lautstarke Abschleifen eines Klaviers geht, ist das nicht der Fall, für Clara Iannottas einstündige, statische, dunkle Performance „skull ark“ gilt dasselbe. Und nach dem knapp zweistündigen Musiktheater „terra nera“ von Saskia Bladt ist man ebenso erschöpft wie entgeistert. Um den Gralsmythos soll es hier wohl gehen; zu sehen ist indes eine dilettantisch bestückte und bespielte Szene, auf der sich die Neuen Vocalsolisten verlieren. Die einzigen guten zehn Minuten des Stücks verdanken sich der Tatsache, dass die Akteure hier sehr fein gemeinsam singen – beim nächsten Eclat-Festival wünscht man sich für die Vocalsolisten mehr Gelegenheiten dazu, als es in diesem Jahr der Fall war.

Hübsch: In einer „Schubert-Lounge“ fasst der Komponist Eivind Buene Originalfassungen von Schubert-Liedern, Pop-Versionen und Eigenkompositionen in eine Art Klangband. Für die stärkste Musik sorgen indes andere. Im Konzert des Ensembles Ascolta, das in den letzten Jahren eine rasante Aufwärtsentwicklung hingelegt hat, gibt es tatsächlich kein einziges schlechtes Stück; Hristina Susak („Anima“) und Mikel Urquiza („Sex doll deluxe“) sorgen für die überzeugendsten.

Starke Kompositionen von Michael Pelzel und Christian Winter Christensen

Ansonsten bieten die Ensembles des SWR starke Werke. In dem Hexenstück des österreichischen Komponisten Michael Pelzel („Hagzusa und Galsterei“) scheint in der Darbietung durch das SWR-Vokalensemble unter Rupert Hubers Leitung förmlich Dampf aus zauberischen Erdlöchern aufzusteigen, und die mächtigen Klangwirkungen wie die ungeheure Energie des Stücks rechtfertigen im Rückblick die Mühe, die Pelzels komplexe rhythmisch-metrische Verschiebungen bereitet haben müssen. Was für ein Chor, der dieses singen kann! Und der sich obendrein gleich am Folgetag wieder hinstellt, um dem SWR-Symphonieorchester bei Vito Zurajs „Der Verwandler“ zur Seite zu stehen, einem effektbewussten Stück, das in etlichen Momenten seiner Dynamik, Tempi und Klangfarbenwechsel wirkt wie am Mischpult gestylt.

Geradezu den Atem verschlagen hat dem Publikum im Orchester-Abschlusskonzert indes vor allem das Klavierkonzert des Dänen Christian Winter Christensen. Dämpfer, Präparierung und Spielart sorgen hier dafür, dass das Stück wirkt, als huschten seine zahlreichen Wiederholungen, seine genretypischen Floskeln und Gesten wie auch manches verhüllte historische Zitat gleichsam hinter einem akustischen Gazevorhang vorüber. Die Pianistin Rei Nakamura am Flügel ruft durch Tastenberührung zuvor abgespeicherte Klänge hervor, Pedal- und Tastendruck wirken wie erstickte Perkussion, und am Ende des Zwanzigminüters, nachdem die Musik in die Stille hineingetröpfelt ist, wäre die knisternde Spannung im Raum wohl auch erhalten geblieben, wenn der Dirigent Brad Lubman seine Hände nicht oben gehalten, sondern gesenkt hätte. Ein unglaubliches Stück. Und ein sehr neues: Die Kraft des Leisen, erzählt es, kann ausgesprochen radikal sein.