Reales Gürteltier in einem Zoo. Die „Gürteltiere“ – also Aktenberge, die von einem Gürtel zusammengehalten werden – werden am Arbeitsgericht Stuttgart abgeschafft. Foto: dpa

Richter nennen Aktenberge, die von einem Gürtel zusammengehalten werden, ein „Gürteltier“. Als erstes Gericht in Deutschland hat das Arbeitsgericht Stuttgart diese Gürteltiere abgeschafft. Akten werden nur noch elektronisch verarbeitet. Davon profitieren auch die Bürger.

Stuttgart - Am Montag ruft der Präsident des Stuttgarter Arbeitsgerichts, Jürgen Gneiting, das Ende des Gürteltiers aus. Damit meint er nicht den Tod des possierlichen gepanzerten Tiers, sondern ein Konvolut von Akten, die von einer Art Gürtel zusammengehalten werden müssen. Das Gürteltier steht für die traditionelle Justiz: perfektionierte Dokumentensammlungen, die jahrhundertelang Grundlage für Verfahren waren. Ab jetzt gibt es das Gürteltier nur noch digital – wie alle Akten am Arbeitsgericht. Viele Richter im Land sprechen von einer „Revolution“, zumindest vom stärksten Wandel ihres Berufslebens. Justizminister Guido Wolf bezeichnet die E-Akte gar als „eine der größten Veränderungen in der Geschichte der Justiz“.

Das Arbeitsgericht Stuttgart führt die Revolution an und hat als erstes Gericht in Deutschland vollständig auf die elektronische Aktenführung umgestellt, betont Gneiting. Die Akte ist im Prinzip eine komplexe Software, die ganz auf die Bedürfnisse eines Richters zugeschnitten ist. Waren bisher Papierstapel oft tagelang in der Post oder auf Fluren unterwegs, ohne dass ein zweiter sie lesen konnte, lässt sich jetzt die Akte E von mehreren gleichzeitig einsehen und binnen Sekunden an Anwälte verschicken. Es gibt Kalenderfunktionen, Arbeitsanweisungen auf einem Klick und eingebaute Extras wie die Prozesskostenbeihilfe; die Unterschrift erfolgt elektronisch. Wurden bisher in den Verhandlungen Verteidigung und Anklage zur Beweiseinsicht zum Richter gebeten, projiziert ein Beamer das entsprechende Dokument für alle in der Runde an die Wand.

Die Sicherheit hat oberste Priorität

Dass andere Branchen Ähnliches vorweisen können, lässt Gneiting so nicht stehen. „Verlässlichkeit und Sicherheit sind die wichtigsten Faktoren“, betont er, mit einer Standardsoftware sei dies nicht zu leisten. Voraussichtlich 25 Millionen Euro werden deshalb die Einführungskosten der E-Akte im Land betragen, teilt das Justizministerium mit. Für den laufenden Betrieb sei die Landesoberbehörde IT Baden-Württemberg verantwortlich. Der Schutz vor Hackerangriffen und Manipulationen sei hoch – was auch Gneiting bestätigt: „Man kann sehen, wann etwas aus einer Akte entnommen wurde und von wem.“

Zwei Jahre lang haben mehrere Kammern des Stuttgarter Arbeitsgerichts die E-Akte erprobt und weiterentwickelt. Mehr als 5000 Klagen wurden ausschließlich auf Basis der Akte E bearbeitet. Jetzt soll das System sukzessive in alle Arbeitsgerichte in Baden-Württemberg einziehen und in Zukunft alle Gerichtsbarkeiten erreichen. Pilotprojekte laufen unter anderem am Sozialgericht Karlsruhe, Verwaltungsgericht Sigmaringen und am Finanzgericht Stuttgart. Spätestens bis zum Jahr 2026 muss die E-Akte aufgrund bundesgesetzlicher Vorgaben an allen Gerichten eingeführt sein. Die Gerichte im Land wollen das schon viel früher schaffen. Ein Grund: Zum ersten Januar 2022 müssen unter anderen alle Rechtsanwälte ihre Dokumente elektronisch einreichen – dafür will man gewappnet sein.

Auch die Bürger profitieren von der E-Akte

Auch die Bürger sollen von der E-Akte profitieren, vor allem komplexere Verfahren werden effizienter und vor allem kürzer. „Ein aufwendiges Verfahren kann zum Beispiel statt zwölf nur noch elf Monate dauern“, sagt Richter Lutz Haßel, der maßgeblich für die Einführung der E-Akte verantwortlich war. Das ist nicht unerheblich, gibt es doch allein am Stuttgarter Arbeitsgericht 12 000 Verfahren im Jahr, das Gros davon Streitigkeiten zum Kündigungsschutz.

Nachteile für die Bürger soll es im Übrigen nicht geben: Sie dürfen ihre Klage weiterhin in Papierform einreichen.