Hier pulsiert die Großstadt: Manhattans Stadtteil Hell’s Kitchen, wie ihn die Serie „Daredevil“ sieht. Foto: Netflix

Die Superhelden der großen US-Comicverlage waren bisher Garanten für kunterbunte Kinospektakel. Im Fernsehen geht es nun dagegen finster und brutal zu. Die Serien „Gotham“ und „Daredevil“ erweisen sich als grandiose urbane Krimiepen.

Ein Nachtclub in Gotham City. Auf der Bühne verhunzt eine ziemlich miese Punkband wild scheppernd ein Lied der Stranglers – „No more heroes anymore! No more heroes anymore“, krächzt der Sänger wieder und wieder ins Mikrofon. Und Oswald Cobblepot grinst über das ganze Gesicht. Nicht nur weil er endlich Chef des Clubs ist, der einst der sadistischen Unterweltkönigin Fish Mooney gehörte, für die er nur als Regenschirmhalter taugte. Sondern vor allem, weil es in seiner Welt tatsächlich keine Helden gibt.

Zumindest noch nicht: Bruce Wayne, der später Batman werden wird, ist ein kleiner Junge, der gerade seine Eltern verloren hat. Batmans späterer Sidekick Robin ist noch nicht einmal geboren. Und der Polizeidetektiv James Gordon muss sich mehr oder weniger allein gegen das organisierte Verbrechen und seine korrupten Kollegen durchschlagen.

Gotham City ist ein Gangsterparadies. Und während der Verein der Superhelden einen Bogen um diese finstere Stadt macht, trifft man hier schon jede Menge frühe Versionen späterer Superschurken an: den Riddler zum Beispiel oder Poison Ivy, selbst den Joker. Und Oswald Cobblepot wird man später besser unter dem Namen Pinguin kennen.

Düstere Version von New York City

Dieses Gotham City aus der Fernsehserie „Gotham“ (dienstags, 22.10 Uhr, Pro Sieben) ist eine fiktive Stadt, die aber unschwer als eine düstere Version von New York City zu erkennen ist. Dort – genauer in dem Stadtviertel Hell’s Kitchen – spielt auch die neue Serie „Daredevil“, deren erste Staffel von Freitag, 10. April, an auf Netflix verfügbar ist. Auch hier erlebt man einen urbanen Albtraum. Auch hier gibt es einen rechtsfreien Raum, in dem sich das organisierte Verbrechen austobt. In Hell’s Kitchen aus „Daredevil“ gibt es ebenso wenig Platz für Helden wie in „Gotham“ – oder in dem Atlantic City, das die Serie „Boardwalk Empire“ porträtierte.

Charlie Cox spielte in dem Prohibitionsdrama Owen Slater, einen kalt-brutalen Iren, der schließlich in einem Massagesalon in Manhattan ermordet wird. In „Daredevil“ ist Charlie Cox nun als Matt Murdock derjenige, der der Figur eines Helden am nächsten kommt. Er ist als Kind bei einem Unfall zwar erblindet, hat seither aber übermenschlich geschärfte Sinne und will nun in Hell’s Kitchen aufräumen. Tagsüber spielt er den Anwalt, will Schurken hinter Gitter bringen, wird aber mit seinen Kollegen Foggy Nelson (Elden Henson aus „Die Tribute von Panem – Mockingjay“) und Karen Page (Deborah Ann Woll aus „True Blood“) selbst in das korrupte Spiel der Mächtigen verwickelt.

Nachts verkleidet und vermummt er sich, wirft russische Gangster von Häuserdächern und versucht wenigstens so ein bisschen dem Kingpin die Geschäfte zu vermasseln.

Gut und Böse: nicht so leicht zu unterscheiden

Auch dieser Kingpin will in Hell’s Kitchen aufräumen – auf seine Art aber: Wilson Frisk (Vincent D’Onofrio aus „Criminal Intent“), der von allen so sehr gefürchtet wird, dass sie es nicht wagen, seinen Namen auszusprechen, hat das organisierte Verbrechen an sich gerissen. Er will das Stadtviertel in eine noble Wohngegend verwandeln – Gentrifizierung der drastischen Art.

Matt Murdock, der sich später Daredevil nennen wird, und Wilson Frisk, wären in einer Schwarz-Weiß-Welt Superheld und Superschurke. Doch „Daredevil“ macht es einem nicht so einfach: In dieser Welt, in der es nur wenig Licht gibt, sind Gut und Böse nicht so leicht zu unterscheiden. Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden sind größer als ihre Unterschiede. Und das mit dem Super ist auch so eine Sache in dieser Grauzone, in die sich das Marvel-Universum jetzt in der Serie „Daredevil“ verirrt hat.

In der Comicwelt des Marvel-Imperiums tummeln sich über 8000 Charaktere. Einige der Superhelden und Superschurken haben es bereits ins Kino geschafft. Andere werden in der Zukunft noch eigene Filme bekommen. Weil man mit Spider-Man, Iron-Man, Captain America, den Avengers und den Guardians Of The Galaxy einen Besucherrekord nach dem anderen aufgestellt hat, gibt es inzwischen einen Kino-Masterplan, der bis ins Jahr 2028 reicht. Den TV-Boom hat Marvel aber etwas verschlafen. Zwar hat man die Serien „Agents Of S.H.I.E.L.D.“ und „Agent Carter“ im Angebot. Konkurrent DC konnte mit Serien wie „The Flash“, „Arrow“ und vor allem „Gotham“ aber mehr beeindrucken.

Die finsteren Ecken der Superheldenwelt

„Daredevil“ leitet nun Marvels TV-Offensive in Kooperation mit dem Sender Netflix ein. Geplant sind vier Serien und eine Mini-Serie. Krysten Ritter („Don’t Trust The B… In Apartment 23“) ist für die Hauptrolle in „A.K.A. Jessica Jones“ gecastet worden, Mike Colter („The Good Wife“) soll Luke Cage spielen. Auch Iron Fist bekommt eine eigene Serie. In „The Defenders“ sollen die TV-Helden – ähnlich wie im Kino bei „The Avengers“ – dann aufeinandertreffen.

Und offenbar von „Gotham“ inspiriert führt „Daredevil“ einen neuen düster-atmosphärischen Ton ins Marvel-Universum ein. Statt das Knallbunt-Fantastische von „The Avengers“ oder „Guardians Of The Galaxy“ fortzuführen, orientiert sich die TV-Version von „Daredevil“ am Comicautor Frank Miller, der in den 1980er Jahren den Superhelden übernahm, den Stan Lee, Bill Everett und Jack Kirby 1964 erfanden. Miller interpretierte Daredevil böse-nihilistisch, machte Murdock als Kind zum Missbrauchsopfer, inszenierte ihn als Antiheld.

Und wie „Gotham“ erweist sich „Daredevil“ so eher als Hard-Boiled-Krimi denn als Actionspektakel. Als ein Ausflug in die finsteren Ecken der Superheldenwelt.

„Gotham“, dienstags, 22.10 Uhr, Pro Sieben; „Daredevil“ ab 10. April, Netflix