Dürrlewang-Experte Hans Martin Wörner Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Es gibt prominente, sexy-attraktive Stadtteile, Bad Cannstatt etwa, die Gänsheide oder den Killesberg. Und es gibt Bezirke in Stuttgart, die kaum jemand kennt. Dürrlewang zum Beispiel. Hans Martin Wörner hat sich mit der Siedlung beschäftigt. Titel seines Forschungsprojekts: „Keine Sau auf dem Balkon.“

Stuttgart - „Keine Sau auf ddem Balkon“: Den Titel für seine Forschungsarbeit, seine Befragung von Zeitzeugen hat der gewiefte 69-jährige Hans Martin Wörner natürlich nicht zufällig gewählt. Vielmehr sollte es bewusst ein plakativer Spruch sein, der aufhorchen lässt und neugierig macht. Allerdings geht es nicht, so die erste Assoziation, darum, dass sich seinerzeit keine Sau, also kein Mensch, auf dem Balkon blicken ließ. Der wahre Hintergrund: Ende der 50er Jahre waren die ersten Bewohner Dürrlewangs in den benachbarten Stadtteilen durchaus scheel angesehen worden – verbunden mit dem Vorurteil: „Die haben ja sogar noch eine Sau auf dem Balkon!“ Dabei waren nur wenige Neubürger früher tatsächlich Landwirte gewesen.

Schweine auf dem Balkon? Gab’s natürlich nicht in Dürrlewang. „Nur einen habe ich gekannt, der hat kleine Hühnchen in der Badewanne gehalten und mit einer Wärmelampe erfreut“, sagt Wörner. 1957 gehörte er, als zwölfjähriger Steppke und Sohn des Pfarrers der neuen evangelischen Kirchengemeinde, zu Dürrlewangs ersten Bewohnern.

„Es war ein unwegsames Morastgelände, ein Sumpfgebiet.“ Kein Wunder, schließlich bedeutet „dürres Wang“ unfruchtbares, weil nasses Gelände, handelt es sich doch um das Quellgebiet der Körsch, das die Stadt von den Bauern günstig bekommen hatte. Viele Bewohner kamen aus ehemaligen deutschen Ostgebieten. Aber auch Stuttgarter, die ihre ausgebombten Wohnungen im Talkessel nicht mehr nutzen konnten, waren froh über die neue Unterkunft. Bekannte Firmen wie Siemens, Bosch, Breuninger siedelten Mitarbeiter an, die Stuttgarter Straßenbahnen brachten ihre Fahrer in Dürrlewang unter, sie stammten aus dem Bayerischen Wald, aus der Türkei oder Russland, „alles rechtschaffene Leute“, so Wörner.

„Reigschmeckte“, „Zigeunerpack“ schallte es aus geöffneten Fenstern

Anfangs „bekamen die vorwiegend jungen Familien in Dürrlewang die ganze Härte und Demütigung von Ausgrenzung und Diskriminierung zu spüren“, erinnert sich Wörner. Oft wurde es recht wüst – etwa wenn die Dürrlewanger mit ihren Gummistiefeln durch den Baustellenmatsch zur Straßenbahn-Haltestelle nach Rohr waten mussten und den „Reigschmeckten“ aus geöffneten Fenstern „Zigeunerpack“ zugerufen wurde.

Ortschronist Wörner, wie er oft genannt wird, liebt sein Dürrlewang bis heute. Dabei sind die Reize für Außenstehende nicht so leicht zu erkennen. Es gibt eben keinen schmucken historischen Ortskern aus dem Mittelalter. „Es gab auch keinen Verein, wenn man mal vom Obst_ und Gartenbauverein absieht – dafür ist Dürrlewang einfach nicht groß genug.“

Wie in jeder Siedlung habe sich keine innere Struktur entwickeln können. „Das ist nicht wie auf dem Dorf mit der Jugendfeuerwehr, in einer Siedlung fehlen diese Traditionen.“ Allerdings verzeichneten die Vereine drum herum in Rohr oder Vaihingen starke Zuwächse. Doch auch wenn aus der jungen, kinderreichen Siedlung ein Ort mit „überalterter“ Bevölkerungsstruktur geworden ist, spricht Wörner vom „schönsten Stadtteil Stuttgarts“.

Mehr als 50 authentische Zeugnisse und Lebensberichte

2006 hat er sein Forschungsprojekt „Keine Sau auf dem Balkon“ begonnen. Als „dr Jong vom alten Pfarrer“ war er vielen Senioren noch ein Begriff, so dass diese Vertrauen fassten und ihre Erinnerungen an die Anfangszeiten schilderten. „Seither beschäftige ich mich mit dem Miteinander in einer neuen Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Mehr als 50 authentische Zeugnisse und Lebensberichte hat er gesammelt, hat Briefe erhalten und Interviews geführt. Oft sprachen die Menschen mit ihm zum ersten Mal über ihre Vergangenheit.

Anfangs, sagt Wörner, habe er die Sammlung „nur für mich gemacht“. Doch das Interesse ist stetig gewachsen. Mittlerweile wird er alle paar Wochen zu einem Vortrag gebeten, sei’s in Dürrlewang oder Vaihingen. Mit dem Projekt „möchte ich nicht nur die Außendarstellung, das Image der Siedlung verbessern, sondern auch aktuell eine integrierende und kulturell aufgeschlossene Gesellschaft in Dürrlewang fördern“.

Sein Engagement hat sich herumgesprochen. Im Oktober 2014 durfte er seine „Geschichte einer Neubausiedlung in den 1950er Jahren“ in einem Vortrag bei einer Tagung des Bunds Heimat und Umwelt in Deutschland, die im Stuttgarter Haus der Architekten stattfand, darbieten. Und vor einigen Wochen wurde Wörner mit einem Förderpreis des Forums Region Stuttgart geehrt: Sein „Keine Sau auf dem Balkon“ kam in der Kategorie Denkmalschutz und Heimatpflege auf den zweiten Platz.

„Ein sehr drastischer Titel“, bescheinigte ihm der Laudator, der Volkskundler Gustav Schöck. Und: „Herr Wörner ist, was uns wichtig erscheint, sehr methodenbewusst und reflektiert; als Sohn des ersten evangelischen Pfarrers von Dürrlewang ist er ein intimer Kenner der Verhältnisse.“ Der so Geehrte will das Lob aber nur begrenzt annehmen: Es gehe schließlich nicht um ihn, sondern immer wieder um „den Dürrlewang“.