Seit mehr als 200 Jahren hat das Hessische Landesmuseum Darmstadt etwa 350 Drucke von allen wichtigen Blättern des Gesamtwerks von Albrecht Dürer im Besitz. Etwa 130 davon ausgestellte Exemplare zeigen den Nürnberger Dürer als einen Künstler, der schon zu seinen Lebzeiten weit über die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus dachte.
Darmstadt - Der Nürnberger Humanist Conrad Celtis nannte den Maler Albrecht Dürer einen „zweiten Apelles“ und pries ihn als den legitimen Nachfolger des bedeutendsten Malers der Antike. Und doch wurde Dürers Reputation als Maler von seiner Wertschätzung als Grafiker noch übertroffen. Allenfalls Rembrandt und Picasso vermochten ihm mit ihren jeweiligen grafischen Œuvres zu ihrer Zeit nahezukommen.
Die Graphische Sammlung des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt besitzt einen hochbedeutenden Bestand an Dürer-Grafik, der mit rund 350 Drucken nicht nur nahezu alle wichtigen Blätter des Gesamtwerkes, sondern darüber hinaus durchweg qualitativ hervorragende, frühe Drucke der Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen umfasst. Aus dem Bestand, der bereits in den Jahren 1802/03 auf Initiative des Großherzogs Ludewig I. von Hessen erworben worden war, hat das Museum in Darmstadt nun eine Ausstellung mit 130 ausgewählten Blättern zusammengestellt.
Wer glaubt, Dürers Grafik bestens zu kennen, sieht seine Bildwelt in Schwarz-Weiß hier ganz neu, staunenden Auges und offenen Mundes. Das ist zum einen den durchweg hervorragenden, weil sehr früh gedruckten Blättern geschuldet, welche die Bilderfindungen Dürers in satter Frische und subtil modulierter Differenzierung von Hell und Dunkel optimal in Szene setzen. Zum anderen hat die Kuratorin der Ausstellung, Mechthild Haas, das umfängliche und vielgestaltige Schaffen Dürers in sinnreiche und erhellende Zusammenhänge gebracht.
Apokalypse und Marienleben
Die großen bildnerischen Erzählungen biblischer Themen – die Apokalypse, die Passionen und das Marienleben – werden in einzelnen Kabinetten im Kontext ihres Gesamtzusammenhanges gezeigt, gleichzeitig jedoch durch die den Vergleich zulassende Hängung einzelner Blätter die stilistische Entwicklung Dürers, seine Vorbilder und seine Nachwirkung aufgezeigt. So breitet sich vor dem Auge des Besuchers der Kosmos Dürers aus, der Himmel und Hölle, Glaube und Leben, Freude und Leid in gänzlich neuen, die Bildwelt des Mittelalters überwindenden Darstellungen illustriert.
Dabei waren die grafischen Bildzyklen, die Dürer schuf, auch unternehmerische Herausforderungen, die für den Künstler, insbesondere bei seiner frühesten Holzschnittfolge, der „Apokalypse“ von 1498, ein risikoreiches, kühnes Unternehmen darstellten. Nicht erst die genialen Selbstvermarkter der modernen Kunst wie Andy Warhol, Jeff Koons oder Damien Hirst beherrschen die Regeln des Kunstmarktes, auch Dürer, der sich im Zeitalter der frühen Neuzeit beim Vertrieb seiner Druckgrafik mit vorkapitalistischen Marktbedingungen konfrontiert sah, passte sich den Spielregeln des Marktes an.
Das Qualitätssiegel „AD“
Der Vertrieb seiner Grafik lag im Wesentlichen in den Händen von Dürers Frau Agnes. So verkaufte sie, während sich ihr Mann auf seine zweite Reise nach Italien begab, im Jahr 1504 während der Frankfurter Herbstmesse mit Erfolg grafische Blätter aus der Werkstatt Albrecht Dürers, dessen Markenzeichen, das charakteristische Monogramm „AD“, längst zu einem berühmten Qualitätssiegel geworden war – und bereits damals von Fälschern missbraucht wurde.
Grundlage für die hohe Anerkennung, die Dürers grafische Arbeiten bereits bei seinen Zeitgenossen hatten, waren seine unvergleichliche handwerkliche und künstlerische Beherrschung des bildnerischen Ausdrucks und seine Fähigkeit, das formale und inhaltliche Repertoire seiner Kompositionen kontinuierlich fortzuentwickeln. Wie Dürer die Bildtraditionen der mittelalterlichen Kunst überwand und zu einer vom Geist der Renaissance und dem Aufbruch in die Moderne geprägten Gestaltung eines Motives gelangte, zeigt die Gegenüberstellung dreier Interpretationen der Kreuzigungsszene Christi: jener aus der „Großen Passion“ von 1498, einer zeitlich „mittleren“ aus der „Kleinen Passion“ von 1509 und einer letzten von 1511. Während die erste Fassung in der Tradition der vielfigurigen, übervollen Darstellungen der mittelalterlichen Ikonografie steht, verknappt Dürer das Personal der Szene mehr und mehr und gelangt in seinem Blatt von 1511 zu einer hochkonzentrierten Darstellung, in der Körper und Raum durch die differenzierte Modulation des Lichts gebildet werden.
Ein neues Menschenbild
Es spiegelt sich in Dürers grafischem Werk dergestalt die Epochenwende, in der die mittelalterliche Weltordnung durch die geistigen Revolutionen von Renaissance, Humanismus und Reformation aus den Angeln gehoben wurde. Dürer prägte unter diesen geistesgeschichtlichen Prämissen für die europäische Kunst ein neuartiges Menschenbild, wie in seinem Kupferstich mit der Darstellung von „Adam und Eva“, in der er 1504 die paradiesische Nacktheit des ersten Menschenpaares nicht als Makel, sondern als das Ergebnis seiner künstlerischen und damit der göttlichen Schöpfung kennzeichnete.
Dürers unerreichte Wandlungsfähigkeit, die es ihm ermöglichte, ein Motiv auf grundlegend unterschiedliche Art und Weise zu behandeln, zeigen seine beiden Blätter, in denen er sich mit der Darstellung des Schweißtuches der heiligen Veronika beschäftigte. In seinem Kupferstich von 1513 stellen zwei Engel das Tuch zur Schau und bilden eine gewissermaßen heraldische, geschlossene Gesamtform, in deren Zentrum das Antlitz Jesu – das möglicherweise die Gesichtszüge des Künstlers aufweist – den suggestiven Mittelpunkt der Komposition bildet.
Kaum drei Jahre später findet er in einer Eisenradierung – einem jener seltenen Blätter, in denen Dürer mit dieser damals noch jungen Technik experimentiert hat – eine atemberaubend neuartige Illustration des Themas, indem ein einzelner Engel das Tuch wie ein vom Wind geblähtes Segel vor sich her flattern lässt. Dürer kann einfach alles: Den Ausdruck feierlicher Ruhe beherrscht er ebenso wie jenen einer dynamischen Bewegung, die Bandbreite seiner Motive umfasst tanzende Bauern, den monumentalen Triumphwagen des Kaisers, das Porträt des durchgeistigten Reformators Philipp Melanchthon oder die phänomenale und treffende Darstellung eines Rhinozeros, eines Tieres, das Dürer nie in natura gesehen hat.
Zur besseren Betrachtung der Blätter stehen dem Besucher Vergrößerungsgläser zur Verfügung, die dazu dienen, die unzähligen Details und kleinsten Motive der Bilder zu entdecken. Und in der Vergrößerung kann man Albrecht Dürer nicht nur als epochale Gestalt der Kunstgeschichte und großartigen visuellen Geschichtenerzähler, als brillanten Handwerker und innovativen Künstler erleben, sondern auch als einen echten Spaßvogel: in seinem Kupferstich „Die Geburt Christi“ von 1504 lässt er auf dem Dach des Stalls einen kleinen Vogel herumstolzieren, der in der Art einer „Punkt, Punkt, Komma, Strich“-Figur ein winziges und witziges Ausrufezeichen, eine souveräne Geste eines großen Meisters und sein humorvoller Gruß an uns ist.