Auch in den Beruf des Fahrzeuglackierers bekommen die Jugendlichen beim Casting Einblick. Foto: Felix /Winkler

Die Erfahrungen, die Schülerpraktikanten in Betrieben machen, sind oft abschreckend. Eine Ausbildung erwägen immer weniger. Die beruflichen Schulen gehen deshalb in die Offensive mit einem Vorhaben, das „nicht zu toppen“ sein soll. Was haben sie vor?

Wie kann man jungen Leuten die Ausbildung schmackhaft machen? Jedenfalls nicht so, wie es derzeit oft läuft: Da dürfe der Schülerpraktikant in einem Malerbetrieb eine Woche lang die Farbeimer in den dritten Stock schleppen. „Der kommt dann zurück und sagt: ,Maler will ich nicht werden‘“, berichtet der Geschäftsführende Schulleiter der beruflichen Schulen, Felix Winkler. Dabei habe der Beruf sehr viel zu bieten. Und wer keine Beziehungen habe, was auf sehr viele Jugendliche zutreffe, lande vielfach letztlich in der Filiale einer Fast-Food-Kette und fege dort in der Küche die Böden. Das Fazit sei anschließend das Gleiche wie nach dem Malerpraktikum: Ausbildung? Nein danke.

„Die Qualität der Praktika ist ein Problem“, sagt Winkler. Im jüngsten Schulbeirat hat er ein Konzept präsentiert, mit dem die beruflichen Schulen ihren Teil zur Lösung beitragen wollen. Ein Berufecasting an den beruflichen Schulen soll die berufliche Orientierung der Schülerinnen und Schüler spürbar verbessern – und Lust auf eine Ausbildung wecken. Die Vielfalt der Ausbildungsberufe sei nicht bekannt, konstatiert der Geschäftsführende Schulleiter. Allein in Stuttgart würden 150 Ausbildungsberufe angeboten. Doch wer kenne schon mehr als zehn, 15 davon?

70 Ausbildungsberufe für bis zu 1400 Teilnehmende

Mittlerweile gibt es mehr als 20 000 Studiengänge, die Zahl der Ausbildungsberufe hingegen hat sich von 606 (Anfang der 70er Jahre) auf 325 nahezu halbiert. Die Zahlen, die Folge einer politisch gewollten Akademisierung seien, hat Winkler im Schulbeirat präsentiert. In einer Zeit, in der sich der Fachkräftemangel zuspitzt und sich immer weniger für eine Ausbildung entscheiden, wollen die beruflichen Schulen ihren Beitrag dazu leisten, aus der Defensive in die Offensive zu kommen.

Wie sieht das Konzept des Berufscastings konkret aus? Die Stuttgarter beruflichen Schulen werden Acht- und Neuntklässlern insgesamt 70 Ausbildungsberufe näherbringen: an ihren Standorten, in ihren Werkstätten, praxisnah und qualitativ hochwertig, wie Winkler verspricht. Das Ganze soll eine Woche gehen und so gestaltet sein, dass Schüler wie begleitende Lehrer einen echten Einblick bekommen. Die Plätze pro Beruf und Schule sind kontingentiert. Für die Buchung wird ein Online-Tool bis Mai programmiert, finanziert wird das Tool aus dem Budget der beruflichen Schulen. Eine Agentur, die selbst unter Fachkräftemangel leidet, hat ein vergleichsweise günstiges Angebot gemacht und unterstützt das Projekt auf diese Weise. Bis Juli sollen sich Schulen anmelden können: darunter nicht nur Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen, sondern auch Gymnasien und Förderschulen. Im Winter erfolgt dann bis Mitte Januar die Buchung der Kontingente – im Februar 2024 wird das Casting stattfinden. Insgesamt werden 1300 bis 1400 Plätze angeboten. Langfristig, so Winkler, seien noch mehr möglich.

Handlungsbedarf ist unstrittig

Die beruflichen Schulen machten das aus Überzeugung, betont der geschäftsführende Schulleiter. Dass immer weniger junge Menschen den Weg in die Ausbildung finden, sei nicht nur gesellschaftlich ein Problem – für viele junge Leute wäre eine Ausbildung auch individuell gesehen der bessere Weg. Das Berufecasting sei bereits erprobt: Mit dem Neuen Gymnasium Feuerbach kooperiere man seit Jahren und biete das Berufecasting den dortigen Schülerinnen und Schülern an. Die Einzigen, die nicht begeistert über ihren Ausweitungsplan seien, seien die Feuerbacher, so Winkler mit Augenzwinkern.

Im Januar hat der Rektor einem Kreis aus Politik, Wirtschaft und Institutionen das Konzept zum ersten Mal vorgestellt. Die Rückmeldungen seien einhellig positiv gewesen, so Winkler. Das Projekt scheine „einen Nerv“ zu treffen. Gerade die Kammern mahnen regelmäßig, mehr gegen den Fachkräftemangel zu unternehmen: Peter Friedrich, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Region Stuttgart, hat erst kürzlich auf der Jahrespressekonferenz betont, dass beim Angebot zur beruflichen Orientierung „viel Luft nach oben“ sein . Es müsse nicht nur einen Tag der Studienorientierung geben, sondern auch einen Tag des Handwerks an den Schulen, so Friedrich. Auch Marjoke Breuning, Vizepräsidentin des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertages (BWIHK), fordert eine „intensivere Berufsorientierung an Schulen“. Im Ballungsraum Stuttgart erwarteten laut IHK 28 Prozent der Unternehmen eine sinkende Beschäftigtenzahl.

Im Schulbeirat sind alle begeistert

Im Schulbeirat sind die Meinungen über das geplante Berufecasting der Berufsschulen über Parteigrenzen hinweg durchweg positiv. Bildungsbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) steht voll hinter dem „tollen Projekt“. Marina Silverii (Grüne) findet das Vorhaben „sagenhaft gut“, Fred-Jürgen Stradinger (CDU) meint, Winkler solle sich das Konzept patentieren lassen. Das Berufecasting sei tatsächlich ein „Leuchtturm“. Die SPD-Fraktionsvorsitzende Jasmin zeigte sich beeindruckt, in welcher Geschwindigkeit das durchgezogen werde. Auch Luigi Pantisano vom Linksbündnis meint, dass man das „nicht toppen“ kann, ähnlich drückt sich Ina Schumann (Puls) aus. Matthias Oechser (FDP), der als Apotheker selbst vom Fachkräftemangel betroffen ist, kann der Einschätzung des Schulleiters nur zustimmen: „Das Studium ist nicht unbedingt das allein glücklich Machende.“

Erhebung und Speed-Dating

Erhebung
Was haben Stuttgarter Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen der Sekundarstufe 1 vor? Darüber gibt eine aktuelle Erhebung der Abteilung Stuttgarter Bildungspartnerschaft Aufschluss. Auffällig ist, dass der Anteil derjenigen, die eine Ausbildung anstreben (21,8 Prozent) fast ebenso hoch ist wie der Anteil derer, die auf ein berufliches Gymnasium wechseln, um das Abitur zu machen (20,4 Prozent). 12,2 Prozent besuchen im Anschluss ein Berufskolleg. 10,4 Prozent wechseln auf eine allgemeinbildende Schule in die höhere Klasse.

Azubi-Dating
Die Handwerkskammer Region Stuttgart versucht, mit einem digitalen „Azubi-Speed-Dating“ junge Menschen und Handwerksunternehmen zueinander zu bringen. Das Angebot startet am 6. März. Auf der Online-Plattform können interessierte Schülerinnen und Schüler ab sofort freie Ausbildungs- sowie Praktikumsplätze in Handwerksunternehmen in der Region Stuttgart finden. Ein 15-minütiges Kennenlerngespräch kann man noch bis 2. April buchen. Mehr Informationen gibt es hier: https://www.hwk-stuttgart.de/speed-dating