Peinlich ist... wenn es an der Tür klingelt und die Partygarderobe hat versagt. So geschehen in einer Filmszene in „Toni Erdmann“. Foto: dpa/Komplizen Film

Wer anderen bei einer Blamage zusieht, den beschleicht nicht selten ein großes Unbehagen. Doch woher stammt der Drang, sich für andere schämen zu müssen? Das sagt die Wissenschaft über das Fremdschämen.

Stuttgart - Alles ist bereit für die Party, es fehlt nur noch das Kleid. Und das hautenge Ding will einfach nicht weiterrutschen. Es klingelt, die ersten Gäste sind da. Statt sich schnell was anderes überzuziehen, öffnet die Gastgeberin nahezu unbekleidet die Tür und erklärt die Feier spontan zur Nacktparty – sehr zur peinlichen Berührung ihres Chefs, der persönlichen Assistentin, ihres Liebhabers und der besten Freundin. Eine Szene zum Fremdschämen? Aber ja. Doch nur selten empfindet man dieses Gefühl mit solchem Vergnügen wie beim Schauen des preisgekrönten Spielfilms „Toni Erdmann“ von Maren Ade.

Ab einem gewissen Grad wird Fremdschämen unerträglich

Meist will man doch nur schleunigst wegzappen, wenn sich jemand derart öffentlich blamiert – etwa in Castingshows oder in Reality-Formaten, live geschaltet aus dem australischen Dschungel. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Peinlichkeit dem Betroffenen bewusst ist oder nicht. So tritt das Gefühl des Fremdschämens auch auf, wenn jemand mit offener Hose durch die Fußgängerzone geht, dies selbst aber gar nicht bemerkt. Fest steht aber: Ab einem gewissen Grad wird Fremdschämen nahezu unerträglich.

Das bestätigen auch Studien zweier Forscher des Uniklinikums Marburg. Sie fanden heraus: Beim Fremdschämen sind die gleichen Bereiche im Gehirn aktiv wie jene, die bei der Beobachtung körperlicher Schmerzen anspringen.

Nur wer sich gut in andere einfühlen kann, ist in der Lage sich für andere zu schämen

Psychologisch gesehen ist das Gefühl ein Maßstab für Reife. „Fremdschämen“, so erklärt es beispielsweise Martin Bürgy, Psychiater und Leiter des Zentrums für Seelische Gesundheit am Klinikum Stuttgart, „ist eine hochkomplexe Angelegenheit.“ Es erfordert nicht nur die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, sondern auch ein hohes Maß an Empathie: „Nur wer sich in eine andere Person einfühlen kann, kann sich auch für sie schämen“, sagt Bürgy. Gleichzeitig braucht es ein Bewusstsein dafür, welche sozialen Normen es gibt und wann sie gelten.

Warum schämen wir uns eher für unsere Eltern als für peinliche Schauspieler?

Das erklärt auch, warum der Fremdschäm-Faktor in der Realität oft höher ausfällt als beim Schauen von „Dschungelcamp“ und Co. Benimmt sich der eigene Vater daneben – etwa im Beisein von Freunden –, ist das für einen selbst viel schlimmer, als wenn ein Fremder sich öffentlich blamiert. Ein Verwandter steht einem näher, empathisch zu sein fällt da nicht schwer. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle dabei, wie stark das Gefühl des Fremdschämens empfunden wird: Frauen sind dagegen weniger gefeit als Männer, weil sie sich aufgrund ihres ausgeprägteren Mitgefühls eher mit dem Betroffenen identifizieren.

Fremdscham oder Schadenfreude?

Warum aber ist die Beliebtheit von TV-Formaten, in denen kein Fettnäpfchen ausgelassen wird, dennoch so hoch? Weil sich zur Scham schnell ein anderes Gefühl mischen kann: die Schadenfreude. Wobei es nicht leicht ist herauszufinden, worin die Abgrenzung dieser beiden Gefühle besteht. Frühere Untersuchungen zumindest haben gezeigt, dass, je unsympathischer einem die Person ist, die sich blamiert, das Mitleid umso geringer ausfällt und die Schadenfreude steigt.