Abgabe von Ersatzdrogen in Stuttgart. Foto: dpa

940 Abhängige verteilen sich auf fünf Arztpraxen in Stuttgart. Und: Von den wenigen Ärzten geht die Mehrzahl bald in Rente. In der Landeshauptstadt bahnt sich deshalb ein massiver Engpass in der Versorgung Drogenabhängiger an.

Stuttgart - Die Zahl der Süchtigen steigt, die Zahl der Ärzte nicht – im Gegenteil. In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der Substituierten, also der Menschen, die mit Ersatzdrogen wie Methadon behandelt werden, in Stuttgart von etwas mehr als 800 auf knapp 1000. Gleichzeitig fehlen Mediziner, die Ersatzstoffe ausgeben dürfen. Die Versorgung der Suchtkranken steht folglich auf tönernen Füßen. In der Folge befürchten Experten, dass illegaler Handel und Beschaffungskriminalität aufblühen können.

Es gibt acht Praxen in Stuttgart, die Drogenabhängige mit Ersatzdrogen behandeln. Sie bieten 990 Plätze für Süchtige an, doch drei dieser Praxen betreuen jeweils nur zehn bis 20 Patienten. Die Folge: 940 Süchtige verteilen sich auf nur fünf Praxen.

Und die Situation wird sich in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen. „Mehr als die Hälfte der Ärzte geht in den kommenden fünf Jahren in den Ruhestand. Nachwuchs ist nicht in Sicht“, sagt Uwe Collmar. Er ist der Dienststellenleiter von Release Direkt, der sozialen und psychologischen Betreuungsstelle für Suchtkranke. Seine Kritik: „Sowohl das Betreuungssystem als solches, aber auch die Patienten sind von einzelnen wenigen Personen abhängig.“ Die Folge dieser Abhängigkeit: Macht einer der wenigen Mediziner seine Praxis zu, stehen mehrere Hundert Süchtige im wahrsten Sinn des Wortes auf der Straße.

Angst vor großem Schwarzmarkt

Was dann geschieht, das wissen Sabrina Peignard und Michael Lohmüller nur zu gut. Die beiden sind Streetworker bei Release und kennen Umschlagplätze und Treffpunkte wie die Paulinenbrücke im Gerberviertel seit Jahrzehnten. „Diejenigen, die ihren Arzt verlieren, gehen auf den Schwarzmarkt, um sich mit Stoff zu versorgen“, sagt Peignard. „Die müssen dann illegale Geschäfte machen, um sich zu versorgen“, fügt Lohmüller hinzu. Und: „Konsumenten, die ihre Ersatzdrogen nicht mehr vom Arzt bekommen, werden sich darum bemühen, dass wieder mehr Stoff nach Stuttgart kommt.“ Will heißen: Wo die Substitution nicht mehr greift, drohen Beschaffungskriminalität und offener Drogenkonsum.

Doch das eigentliche Problem liegt nicht in Stuttgart. „Die Situation in den umliegenden Kreisen und in ländlichen Gegenden ist noch wesentlich schlechter“, sagt Andreas Zsolnai. Er ist Stuttgarts wichtigster Suchtmediziner, 300 Patienten betreut er mit seinen Kollegen in zwei Praxen. Seine Einschätzung teilt der suchtpolitische Sprecher der Grünen im Landtag, Josha Frey: „Es gibt zunehmend Nachwuchsschwierigkeiten bei den Substitutionsärzten – aktuell insbesondere in den Landkreisen Calw, Karlsruhe sowie in Stuttgart und den umliegenden Landkreisen.“ Jüngstes Beispiel: Nach Angaben von Release haben in Sindelfingen und Reutlingen zuletzt drei Ärzte ihre Praxen geschlossen. „In Esslingen gibt es keinen einzigen Kollegen, der Methadon ausgibt“, berichtet Zsolnai. „Dadurch gibt es eine Sogwirkung nach Stuttgart.“ Das bedeutet, das ohnehin schon überlastete System der Landeshauptstadt wird durch stetigen Zustrom aus dem Umland noch schneller an seine Grenzen gebracht.

Bereitschaft, Suchtkranke zu behandeln, sinkt

Lösen ließe sich das Problem nur, wenn junge Ärzte in die Suchtmedizin einsteigen würden. Darin sind alle Beteiligten einig. Grünen-Politiker Frey stellt jedoch einen gegenläufigen Trend fest: „Die Bereitschaft, sich der Betreuung dieser Patienten anzunehmen, sinkt, weil die Behandlung mit sehr viel Verantwortung verbunden ist und ein hoher Bürokratieaufwand anfällt.“ Auch die Furcht vor Strafverfolgung wirke offenbar abschreckend, so Frey weiter.

„Wir haben überall im Land zunehmend Engpässe in der Drogensubstitution. Das ist keineswegs nur ein Stuttgarter Problem“, gibt auch Kai Sonntag zu. Er ist der Leiter der Pressestelle der Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Einer der Kritikpunkte aus den Reihen der Streetworker und Mediziner: Die Ärzte, die in der Substitution arbeiten, wenden pro Patient deutlich mehr Zeit auf als für Schnupfenpatienten. Doch finanziell schlägt sich das kaum nieder. Dazu Sonntag: „Wir glauben, dass es zu kurz gesprungen ist, wenn die Schwierigkeiten in der Substitution rein auf die finanziellen Aspekte begrenzt werden.“ Und: „Wir werben im Rahmen unserer Möglichkeiten bei unseren Mitgliedern dafür, Substitutionspatienten zu behandeln.“

Weitere Kritik aus den Reihen der Suchtexperten: Die Ärzte haben kaum Zeit, sich mit den Kranken zu beschäftigen. „Substitutionspatienten benötigen insgesamt mehr Zeit als ,normale‘ Patienten“, sagt Sonntag und fügt an: Die Frage, ob genug Zeit für eine Behandlung zur Verfügung steht, stehe nicht im Mittelpunkt der Betrachtung der KVBW.

Derzeit ist keine Lösung des Problems in Stuttgart und der Region in Sicht. Aktuell gilt: „Jedes Mal, wenn ein Arzt aufhört, kommen alle ins Schwitzen, wo die 100 oder 200 Süchtigen jetzt unterkommen“, sagt Andreas Zsolnai. Wie dramatisch das Problem in Sachen Nachwuchs ist, zeigt eine Aussage des Stuttgarter Arztes. „Als ich 2007 angefangen habe, war ich der jüngste Suchtmediziner der Stadt“, erzählt Andreas Zsolnai und fügt an: „Das hat sich bis heute nicht geändert.“