Wegweiser ins Ungewisse: Ein Teil des Zwangsarbeiter-Mahnmals Foto: factum/Weise

Mehr als 200 000 Zwangsarbeiter wurden während der Nazi-Herrschaft in Bietigheim-Bissingen in ein riesiges Durchgangslager gesteckt und von dort aus nach ganz Süddeutschland weiterverteilt. Hunderte starben in dem Lager. Die Stadt erinnert jetzt mit einem mehrteiligen Mahnmal daran.

Bietigheim-Bissingen - Eines der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte hat die Stadt Bietigheim-Bissingen jetzt in augenfälliger Weise aufgeblättert – in Form eines mehrteiligen Mahnmals von Sara Focke Levin. Im Dritten Reich diente die Stadt wegen ihrer günstigen Lage am Eisenbahnknotenpunkt als Standort für ein Durchgangslager für so genannte Fremdarbeiter. Männer, Frauen und Kinder, zwangsverschleppt aus Osteuropa oder Ländern wie Frankreich und Belgien, wurden in ein nahe des Bahnhofs, aber abseits der Wohnbebauung gelegenes Lager mit 50 Baracken für 1800 Menschen gepfercht, untersucht, durch die Entlausungsstation geschleust. Und dann bald weiterverschickt – zur Zwangsarbeit in ganz Süddeutschland.

Die „reine“ und die „unreine“ Seite

An das Schicksal der rund 200 000 Menschen, für die Bietigheim die Zwischenstation eines langen Leidensweges war, erinnert Sara Focke Levin dort, wo die Deportierten zwischen 1942 und 1945 nicht zu übersehen waren. Am Saum des Bahnhofes, auf den Windschutzscheiben der Buswartehäuschen, schildern großflächig aufgedruckte Erinnerungs-Textfetzen von Überlebenden schlaglichthaft Szenen und Stationen der Verschleppung. Eine ins Wartehaus-Dach eingelassene Uhr spiegelt sich auf dem Boden, in der Spiegelung läuft sie rückwärts. Man kann das als gestohlene Lebenszeit der Opfer interpretieren.

Etwas weiter zeigen leere Schilder an einem Zehn-Meter-Mast ins Unbestimmte. „Die Menschen kamen aus allen Richtungen und wurden in alle Richtungen weiterverteilt“, sagt Isabell Schenk-Weininger, Leiterin der Städtischen Galerie, zum Konzept. „Natürlich hätte man Orte und Firmen auf die Schilder schreiben können. Aber wir haben es bewusst offen gelassen.“

Auch die Galerie zeigt einen Teil des Mahnmals. Focke Levin fotografierte Straßenmarkierungen auf dem einstigen Lager-Areal – heute ein Gewerbegebiet – und kombinierte das mit historischen Luftbildern alliierter Aufklärungsflieger und alten Lager-Planskizzen, die in perfider NS-Terminologie die „reine“ und die „unreine“ Seite der Baracken vermerkten. Die Collage soll auf dem DLW-Areal einen Platz finden, das bald Wohn- und Gewerbequartier wird. Die Deutschen Linoleum-Werke gehörten zu den Bietigheimer Firmen, bei denen die meisten Zwangsarbeiter schuften mussten.

Hunderte von Verschleppten starben

Für Hunderte Verschleppter war Bietigheim keine Durchgangs-, sondern die Endstation. Fleckfieber und andere Krankheiten brachen im Lager aus; schnell machte man sich in der Stadt Sorgen, der Bietigheimer Friedhof könne bald zu klein sein. Ein eigener Friedhof für „Ostarbeiter“ wurde angelegt, dazu kamen ein „Seuchenlager“ in Pleidelsheim und von Mitte 1943 an ein Krankenlager in Großsachsenheim.

Angesichts dieser Dimensionen schien der Stadt, deren Einladung zum Besuch 2003 knapp 20 ehemalige Zwangsarbeiter folgten, eine Gedenktafel im heutigen Gewerbegebiet weder angemessen noch öffentlichkeitswirksam genug, sagte der Rathauschef Jürgen Kessing bei der Installation des 35 000 Euro teuren Mahnmals. Thomas Schnabel, Direktor des Hauses der Geschichte, hob die Initiative explizit hervor: Auf lokaler Ebene sei die Erinnerung an Zwangsarbeit wenig ausgeprägt, merkte er an. „Aber wer sich nicht mit den historischen Formen der Ausgrenzung, Ausbeutung und Unterdrückung beschäftigen will, hat auch heute kein Interesse daran.“