Das Bundesverfassungsgericht sieht im Geschlecht eine Schlüsselposition im Selbstverständnis eines jeden Menschen. Daher muss der Gesetzgeber künftig neben männlich und weiblich eine dritte Option im Geburtenregister anbieten.
Karlsruhe - Die Verfassungsrichter haben zunächst einmal viel zugehört, bevor sie gesprochen haben. Insgesamt 16 Verbände und Institutionen sind zu Wort gekommen, bevor der Erste Senat in Karlsruhe seinen Beschluss zum Thema Intersexualität gefasst hat. Neben der Thüringer Landesregierung, dem Deutschen Ethikrat, der Bundesärztekammer und dem Deutschen Institut für Menschenrechte waren unter anderem auch der Bundesverband der Deutschen Standesbeamten und das Zentralkomitee der Katholiken nach ihrer Meinung gefragt. Nicht jeder teilte die Ansicht, wie sie nun von den Richtern formuliert wurde.
Das gilt auch für die juristischen Kollegen. Der Bundesgerichtshof hatte noch im vergangenen Jahr erklärt, dass bei der juristischen Schaffung eines neuen Geschlechtes „staatliche Ordnungsinteressen“ in einem erheblichen Umfang betroffen wären. Die Verfassungsrichter haben das Urteil genau gelesen und kontern nun: „Ordnungsinteressen des Staates vermögen die Verwehrung einer weiteren einheitlichen positiven Eintragungsmöglichkeit nicht zu rechtfertigen.“ Im Klartext: Wenn die Umstellung Geld koste, dann sei das hinzunehmen.
In Deutschland gibt es bis zu 160 000 Betroffene
Damit hatte die Verfassungsbeschwerde einer Person mit dem Namen Vanja Erfolg, die sich weder als Mann noch als Frau in das Geburtenregister eintragen lassen wollte. Die Beschwerdeführerin, die inzwischen in Leipzig lebt, verfügt über einen atypischen Chromosomensatz. Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland 80 000 bis 160 000 intersexuelle Menschen.
Diese Menschen können aus anatomischen oder hormonellen Gründen nicht eindeutig entweder als Mann oder als Frau gelten. Dies ist nicht zu verwechseln mit den Transsexuellen, die sich nicht in dem Körper zu Hause fühlen, in dem sie eigentlich geboren wurden.
Im Fall von Vanja sehen die Richter nun das Persönlichkeitsrecht als verletzt an. Dieses, so der Erste Senat, schütze auch die geschlechtliche Identität. Das Geschlecht sei für die eigene Identität von „herausragender Bedeutung“ und nehme eine Schlüsselposition im Selbstverständnis jedes Menschen ein. Geschützt werden müsse auch die Identität derjenigen, die sich weder dem männlichen noch weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.
Nepal kennt das dritte Geschlecht bereits
In einigen Ländern sind Geschlechtseintragungen, die von männlich und weiblich abweichen, schon heute möglich. In Nepal wurde 2015 die Angabe „anders“ eingeführt, in Australien kann man sich seit 2014 als „non-specific“, also unbestimmt, bei den Behörden eintragen lassen. Innerhalb Europas bietet etwa Großbritannien die Möglichkeit, als „unknown sex“ im Geburtenregister zu stehen. Vor allem im Sport haben intersexuelle – oder vermeintlich intersexuelle – Athleten schon mehrmals Aufsehen verursacht. Die Südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya, die bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin 2009 die Goldmedaille gewann, musste sich diversen Zwangsuntersuchungen unterziehen.
Die indische Sprinterin Dutee Chand, kämpft vehement für die Rechte von intersexuellen Athleten. Sie ist bis vor das internationale Sportgericht CAS in Lausanne gezogen und hat dort erreicht, dass sie bis auf Weiteres als Frau mit Besonderheiten an den Start gehen kann. Vanja, die bei ihrer Geburt 1989 als weiblich registriert worden war und mit dem Wunsch scheiterte, beim Standesamt als „inter/divers“ geführt zu werden, bezeichnete den Richterspruch gegenüber dem Evangelischen Pressedienst als „große Freude“. Es gebe viele Menschen, die ihre Intersexualität „lebenslang als Geheimnis mit sich tragen“, die Entscheidung könne sie aus der Unsichtbarkeit führen. Vanja forderte zudem mehr Verständnis von Medizinern: Teils würden Kinder immer noch operiert, um ihnen eindeutig ein Geschlecht als „Mann“ oder „Frau“ zuzuordnen: „Das ist medizinisch nicht notwendig.“