Rund 26 000 Flüchtlinge kamen im September nach Baden-Württemberg – so viele wie im ganzen Jahr davor. „Die Zahlen zwingen uns zu handeln“, sagt Integrationsministerin Öney. Wie, das hat sie jetzt in Heidelberg demonstriert.

Heidelberg - Vor der biometrischen Kamera im Heidelberger Registrierungszentrum sitzt ein Häufchen Elend. Ein Pappschild mit der Nummer 497294 auf dem Schoß, blickt der junge Iraker verstört in die Linse. Er versteht weder Deutsch noch Englisch, weiß nur, dass er hier Foto und Fingerabdruck hinterlassen soll, damit es weiter geht mit seinem Asylantrag. Und er versteht auch nicht so recht, warum so viele zusätzliche Kameras auf ihn gerichtet sind – Presseleute umringen ihn wie einen Fernsehstar.

„Danach geht es weiter zur Inaugenscheinnahme“, sagt eine Bedienstete und bugsiert den Flüchtling in ein Nachbarzimmer. Integrationsministerin Bilkay Öney und Innenminister Reinhold Gall nicken anerkennend. So haben sie es sich vorgestellt hier im Heidelberger Patrick-Henry-Village: Registrierung am Fließband.

Dieses Schnellverfahren ist der eigentliche Star bei diesem Pressetermin in der früheren US-Wohnsiedlung. Akte anlegen, fotografieren, röntgen, Asylantrag stellen – das alles gab und gibt es auch in anderen Landeseinrichtungen, die Flüchtlinge empfangen. Doch erst hier in Heidelberg läuft das alles mit System. Der Nächste bitte!

Musterung in einem Tag

Es war die schiere Not, die zu dieser Rationalisierung zwang, nicht deutscher Ordnungssinn. Die Erstaufnahmeeinrichtungen in Karlsruhe, Ellwangen, Meßstetten und anderswo kamen mit der Arbeit einfach nicht nach. „Derzeit erreichen etwa tausend Flüchtlinge täglich Baden-Württemberg“, sagt Ministerin Öney und spult weitere Zahlen herunter, sie sind ihr geläufig.

„98 847 kamen in diesem Jahr bisher ins Land, davon wurden 71 195 registriert . . .“ Man kennt die Litanei. Die Zahlen erhöhen sich täglich. Deshalb soll also das Drehkreuz oder das Registrierungszentrum, wie sich das Heidelberger Verfahren nennt, zumindest den Verwaltungsgang vor der Erstaufnahme beschleunigen.

„Bei der Musterung haben wir das früher in einem Tag geschafft, das werden wir doch auch hier schaffen“, sagt Landesbranddirektor Hermann Schröder, ein jovialer Endfünfziger mit grauem Bürstenschnitt. Er ist Spezialist für Katastrophenhilfe, also genau der richtige Mann als Leiter der Stabsstelle, die im Innenministerium für Flüchtlingsunterbringung eingerichtet wurde.

Schnellverfahren in fünf Schritten

In einer ehemaligen Sporthalle der PHV, wie hier alle das Patrick-Henry-Village abkürzen, hat er Tafeln aufgehängt, die das Schnellverfahren in fünf Schritten skizzieren. Es sieht ein wenig aus wie die Gebrauchsanweisung für eine neue Waschmaschine.

„1. Easy Optioning, 5 Minuten“, ist darauf zu lesen. Was so viel heißt wie: Die Flüchtlinge kommen an, sagen, woher sie stammen, und werden dann entsprechend der Quote auf die Länder verteilt. „6 Arbeitsplätze“ ist darunter vermerkt.

Auf der zweiten, dritten, vierten Tafel folgen die weiteren Schritte: Registrierung (30 Minuten, 40 Arbeitsplätze), Erkennungsdienstliche Behandlung (10 Minuten, 12 Arbeitsplätze), Inaugenscheinnahme (3 Minuten), Röntgen (3 Minuten).

Und auch jene Behörde ist vertreten, die bisher so gern als größter Bremsklotz in dem langwierigen Asylverfahren geschmäht wird: die Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge, kurz: Bamf. „Das Amt ist bereits mit 13 Kräften hier, bei denen die Flüchtlinge ihren Asylantrag stellen können“, sagt Innenminister Gall. Sie sollen aber vor allem das tun, was politisch nicht unumstritten ist: die Flüchtlinge möglichst so sortieren, dass jene mit Aussicht auf Asyl bereits von Heidelberg aus an die Kommunen geschickt werden. Jene ohne Aussicht auf Bleiberecht aber werde man „informieren, wie es weitergeht“, sagt ein Bamf-Mitarbeiter. Soll heißen: Man wird sie „auf die Möglichkeiten zur freiwilligen Rückkehr hinweisen“. Vor allem Menschen aus den Balkanländern sollen wieder gehen, zunächst aber will man sie in die Landeserstaufnahmestellen zurück schicken.

Bundeswehr ist sehr erwünscht

Rund 600 Flüchtlinge sollen so in Heidelberg an einem Tag registriert werden. Drei Viertel aller neu ankommenden Flüchtlinge hofft man an 30 Schaltern in zwei Schichten innerhalb von zwei Tagen zu verteilen. Vier Wochen lang wurde das Modell getestet, und noch immer ist das dafür erforderliche Personal noch nicht vollzählig. „Doch wir sind sicher, dass es klappt“, sagt Gall und fasst seinen Nebenmann sanft am Ärmel: „Wir haben ja auch die Bundeswehr hier.“ Jetzt zahle sich die häufig geübte zivil-militärische Zusammenarbeit aus.

Der Angesprochene ist Oberst Christian Walkling, der Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg. Militärisch knapp gibt er Auskunft, wie viele seiner Soldaten derzeit in der Flüchtlingsaufnahme mithelfen – in Heidelberg sind es allein 75. „Ich habe aber ein Kontingent in ständiger Rufbereitschaft“, sagt der Offizier, fügt aber mehrfach hinzu: „Auf konkrete Anforderung“.

Nein, die Bundeswehr gibt hier nicht den Ton an, das darf sie auch gar nicht. Aber Integrationsministerin Öney sagt klipp und klar, warum sie die Anwesenheit der Soldaten so schätzt: „Weil die Flüchtlinge weniger Fehlverhalten zeigen.“ Die Bundeswehr habe vor allem bei jungen, allein stehenden Männern eine moderierende Funktion.

Hoffen auf Ruhe in Heidelberg

Der junge Iraker, der gerade fotografiert wurde, sieht nicht aus, als habe er es auf Randale abgesehen. Auch der junge Syrer nicht im Wartezimmer, der, als er die Journalisten bemerkt, in fließendem Englisch um Hilfe bittet. Warum, so fragt er und zeigt auf ein Schriftstück, habe er sein Asylgespräch erst im Dezember? Ein kleines Mädchen will neben ihm auf den Flur hinaus, wird aber von einem Wachmann eines Sicherheitsdienstes zurück ins Wartezimmer geschoben. Wenn schon nicht an der Grenze, dann soll wenigstens hier Ordnung herrschen.

Noch vor wenigen Wochen war das ganz anders in Heidelberg. Da haben sich die Bürger der umliegenden Vororte massiv über Heerscharen von Flüchtlingen beschwert, die ihre Felder zertrampelten, in die Vorgärten urinierten und überall Unrat hinterließen. Jetzt fahren Shuttle-Busse die Flüchtlinge im Halbstundentakt zur Stadt und wieder zurück.

„Ich glaube, dass das neue Modell eine positive Auswirkung hat“, sagt Sozialbürgermeister Joachim Gerner. Die Menschen seien beschäftigt und langweilten sich nicht so wie früher, als die Asylbewerber sechs, sieben Monate im PHV verweilten. Doch das Modell könne nur funktionieren, wenn auch Polizei und vor allen Dingen die Bamf genügend Personal bereit stellten. Außerdem sei sein Jugendamt mit den vielen unbegleiteten Kindern überfordert, die als Flüchtlinge ankommen. Da müssten auch die Erstaufnahmeeinrichtungen in Karlsruhe und andernorts helfen.

Hier ist Platz für Tausende

Gerner runzelt die Stirn, als Cheforganisator Schröder sagt: „In der PHV ist für unendlich viele Menschen Platz.“ Aber irgendwann sei natürlich eine Grenze erreicht. Er denke an 5000 bis 6000 Flüchtlinge im Endausbau. Doch der Sozialbürgermeister schweigt dazu.

Dass die Stadt versucht, aus der Not eine Tugend zu machen, ist ja bekannt. Und dass die Flüchtlinge sämtliche Rathauspläne mit der früheren US-Wohnsiedlung durcheinandergewirbelt haben, weiß auch jeder. Viele Häuser sehen proper aus, die Amerikaner haben kurz bevor sie vor drei Jahren abzogen hie und da noch kräftig investiert. Sportanlagen, Spielplätze – vieles davon können die Flüchtlinge nutzen.

Wie lange das Drehkreuz bestehen bleibt? „So lange wie erforderlich“, antwortet Gall lakonisch. Er hat es aufgegeben, beim Flüchtlingsthema Prognosen zu geben. Er weiß nur, dass der Bund und andere Länder Interesse an dem Heidelberger Modell angemeldet haben. Ob es funktioniert, muss sich noch zeigen.