Ingeborg Beyer aus Marbach (Kreis Ludwigsburg) fiel aus allen Wolken: Das Altenheim schließt – sie sucht jetzt verzweifelt Demenzplätze für ihren Mann und seine Schwester.
Auf ihren Mann Klaus ist Ingrid Beyer immer stolz gewesen. Sie ist es auch jetzt noch, da er im Rollstuhl sitzt, unter Demenz leidet – und er sie nicht mehr erkennt. „Ich sehe die Besuche inzwischen als eine Art Ehrenamt an“, sagt die 76-Jährige, die innerlich Distanz zu ihrem geliebten Ehemann schaffen musste, um nicht selbst krank zu werden. Die „ehrenamtlichen“ Besuche führen sie immer wieder ins Haus Ahorn nach Beilstein, wo sie sich auch um Klaus’ ebenfalls demente Schwester Ingrid kümmert. Doch das Altenheim schließt im März. „Ich bin sehr beunruhigt“, sagt Ingeborg Beyer, die für beide einen neuen Platz finden muss, aber Probleme hat, ihn zu finden.
Zum Haus Ahorn fährt Ingeborg Beyer die rund 15 Kilometer meistens mit dem Fahrrad. „Ich kann dabei meine Aggressionen rauslassen“, erzählt sie. Ihre Wut habe mehrere Ursachen – zum Teil hängen sie mit der unerwartet schnellen Schließung des in die Jahre gekommenen Altenheims zusammen, gegen die nun einige Pflegeangehörige protestieren. An die Nerven gehe ihr aber vor allem die Unsicherheit bei der Suche nach neuen Plätzen: „Ich würde gerne wissen, wohin ich Klaus und Ingrid geben kann.“ Enttäuscht sei sie, wie wenig geeignete Plätze für Demente es in Altenheimen gebe. „Ich möchte für dieses Problem sensibilisieren.“
Demenz als Krankheit greife um sich, und bei ihrem Mann, der als Physiker und erfolgreicher Geschäftsmann ein „Macher“ gewesen sei, hat Ingeborg Beyer vor etwa sechs Jahren massive charakterliche Veränderungen bemerkt. „Es war nach dem Tod einer uns sehr nahe stehenden Tante und unserer Reise nach Georgien und Armenien.“ Klaus sei auf einmal so desinteressiert gewesen, „es war ihm alles egal“. Seine ganze Dynamik, die ihn so lange ausgezeichnet habe, verschwand binnen kurzer Zeit. „Ich war erschüttert.“ Die Diagnose: Frontotemporale Demenz (FTD).
Nach einer Operation mit Narkose schritt die Demenz schnell fort
Rapide bergab ging es, als Klaus Beyer bei einer Fahrradtour fast vor der Haustüre stürzte und operiert werden musste. „Die Narkose bringt für Demenzkranke große Schübe mit“, erklärt Ingeborg Beyer. Nur dank einer 24-Stunden-Wache der ganzen Familie riss sich der Gestürzte im Krankenhaus die Schläuche nicht weg. Zwei polnische Pflegekräfte – eine für tags, die andere für nachts – ermöglichten das Bleiben im eigenen Haus. Irgendwann war jedoch klar: Klaus Beyer hat es in eine Einrichtung besser. Überraschend schnell fand sich ein Platz im Haus Ahorn. Für die Ehefrau fast schon zu schnell: „Nach 50 Jahren war mein Mann einfach weg: Es war für mich die Hölle.“ Ingeborg Beyer nahm professionelle Hilfe einer Psychologin an. „Man schafft es alleine nicht.“ Ein großer Rückhalt seien ihre Kinder, Enkel und treue Freunde.
Über die Pflege im Haus Ahorn weiß sie nur Positives zu berichten. „Ich durfte meinen Mann zu Beginn eine Woche lang nicht besuchen – das hat mich irritiert.“ Letztlich hatten die Pflegeverantwortlichen aber recht: „Als ich ihn dort antraf, war mein Mann total ausgeglichen. Er sagte, er sei gut beschäftigt und wolle nicht mehr heim.“ Viele Demente in Altenheimen verhielten sich gegenteilig – ein natürlicher Reflex, die sogenannte Hinlauf-Thematik: Sie wollen weg, „nach Hause“ und brauchen deshalb einen geschützten Bereich, den man früher „geschlossene Abteilung“ nannte. Im geräumigen Haus Ahorn fanden die Beyers genau die Umgebung, die ihnen guttat: etwa auch einen Garten, in dem gemeinsame Naturerlebnisse und ein Ausleben des Bewegungsdrangs möglich sind.
Ausdrücklich mit in ihre Verantwortung nahm Ingeborg Beyer ihre Schwägerin Ingrid, die auch unter einer Demenz leidet. „Sie war immer auch für uns da.“ Und so ließ Ingeborg Beyer die Schwester ihres Mannes von Aachen nach hier umziehen. „Klaus hatte die Vollmacht – wir konnten sie auf unsere Kinder übertragen lassen.“ Bruder und Schwester konnten im Haus Ahorn wohnen und viel Zeit miteinander verbringen. „Es ist spürbar, wie die beiden sich guttun, fast wie Kinder, die zusammen spielen“, erzählt die ehemalige Grundschullehrerin.
Die an Demenz erkrankte Schwägerin landet auf der Warteliste für ein Altenheim
Wie aber kann es jetzt weitergehen? Für ihren Mann, der schwer an Prostatakrebs erkrankt ist, strebe sie einen Palliativplatz im Bietigheimer Hospiz an. „Ich habe noch keine Zusage, aber gute Aussichten.“ Schwieriger sei es, für ihre Schwägerin einen Platz zu finden, da sie hinlaufgefährdet sei, also ziellos umherirren könne. Ein Altenheim in Bittenfeld habe einen geschützten Bereich, doch es gebe eine Warteliste. In irgendein beliebiges Seniorenheim wolle sie Ingrid nicht geben, „es gibt da große Unterschiede“.
Mit Demenz umzugehen sei für Freunde nicht einfach, erzählt Ingeborg Beyer. „Manche sind weinend rausgegangen, andere wollen gar nicht darüber reden.“ Für die lebensfrohe Christin, die sich in der katholischen Kirchengemeinde in Marbach engagiert, zählt der Rückhalt anderer Menschen. Und das Versprechen, das ihr Mann Klaus und sie sich in besseren Tagen gaben: „Keiner muss sich aufgeben für den anderen.“ Sie ist sich sicher: „Das Herz wird nicht dement.“
Was ist eine Frontotemporale Demenz?
Krankheit
Die Frontotemporale Demenz (FTD) ist eine seltene Form einer schnell fortschreitenden Demenz, erklärt das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Göttingen. Die FTD mache Schätzungen zufolge zusammen mit der Alzheimer-Demenz die Mehrzahl aller Demenzerkrankungen unter 65 Jahren aus. Kennzeichnend bei der FTD sei, dass Nervenzellen speziell im Stirnhirn (Frontallappen) und im Schläfenlappen (Temporallappen) untergehen.
Folgen
In diesen Gehirnbereichen werden, so die Göttinger Forscher, wichtige Funktionen gesteuert: Zu den Aufgaben der Frontallappen gehörten unter anderem das Sozialverhalten und die Verhaltenskontrolle, die Temporallappen sind unter anderem für das Sprachverständnis von Bedeutung. Im Vergleich zur Alzheimer-Demenz breche die Frontotemporale Demenz früher aus: meist zwischen dem 45. und 65. Lebensjahr.