Sabrina Zimmerer hat daheim nie darüber gesprochen, dass sie Frauen liebt. Das könnte sich nun ändern: Die Dorfpride macht am Samstag Station in ihrem Heimatdorf Zeutern.
In ihrer Familie ist Schweigen Gold. Als Sabrina Zimmerer mit 18 Jahren Frauen zu den Familienfesten mitbringt, kommen keine Nachfragen. Auch nicht, als sie später eine Frau heiratet und Mutter wird. „Dass ich lesbisch bin, darüber liegt ein Mantel des Schweigens“, erzählt die 45-jährige Frau aus Zeutern, einem unauffälligen 3000-Seelen-Dorf, das irgendwo zwischen Karlsruhe und Heidelberg liegt. „Ich habe das auch selbst nie angesprochen.“
Das könnte sich bald ändern. Im Veranstaltungskalender von Zeutern steht im Monat Mai ein exotischer Termin: Nach dem Maibaumaufstellen und dem üblichen Gig des Musikvereins zum Vatertag soll am 31. Mai 2025 erstmals in der Geschichte von Zeutern eine Dorfpride stattfinden – ein Demonstrationszug also, bei dem Menschen ihre sexuelle Orientierung und ihre geschlechtliche Identität „stolz“ – das bedeutet „pride“ im Englischen – und öffentlich feiern. Eine Art Christopher Street Day (CSD), nur in klein.
Die Dorfpride ist eine Wanderveranstaltung und Zeutern die sechste Station. Entstanden ist die Idee 2020 beim Geburtstagsumtrunk der Winzerin Simona Maier in Mühlhausen, die im Körper eines Mannes zur Welt kam. Sie erzählte ihren Freunden von schwierigen Erfahrungen, die sie als Transfrau gemacht habe. „Dann zieh doch weg“, sagten die Freunde. „Aber ich habe meine Weinberge hier. Die kann ich doch nicht mitnehmen.“ In dem Moment sei ihnen ein Licht aufgegangen, erzählt Sarah Kinzebach vom fünfköpfigen Organisationsteam der Dorfpride. „Wir begriffen: So viele Leute wollen oder müssen bleiben. Die dürfen wir nicht allein lassen. Wir müssen zu ihnen kommen.“
Vier Wochen später fand in Mühlhausen die erste Dorfpride statt, ein Jahr später in Oftersheim, dann in Ladenburg, danach in Wiesloch, weil der Bürgermeister so nett gefragt hatte, und vergangenes Jahr in Ketsch. Die Gemeinden liegen alle im Rhein-Neckar-Kreis, wo die Organisatoren wohnen. Dieses Jahr expandieren sie erstmals in den Nachbarkreis Karlsruhe.
Die Wahl fiel auch auf Zeutern, weil Sarah Kinzebach regelmäßig 45 Minuten dorthin pendelt – zu Sabrina Zimmerer. „Wir haben uns vor drei Jahren ineinander verliebt.“ Nicht in Zeutern, sondern bei Ilse, einer Initiative für queere Eltern in Mannheim, wo Sarah Kinzebach mit ihrem Sohn lebt. „Anfangs war mir das ruhige Dorf unheimlich“, erzählt sie. Bis ihre Freundin sie zum Hakorennen mitnahm, wo Einachser-Zugmaschinen mit Anhängern über einen Matschparcours steuern. „Ich hatte Herzklopfen, da waren nur große Hetero-Kerle.“ Die beiden Frauen trugen Regenbogen-T-Shirts, hielten Händchen, küssten sich. „Und niemand hat uns blöd angeguckt.“ Dort konnte sie das Gefühl, in dem Dorf ein Fremdkörper zu sein, endgültig ablegen.
Nicht jeder Ort kommt für eine Dorfpride in Frage. So ein Demonstrationszug könne nur Offenheit für Vielfalt wecken, „wo sich Vorurteile noch nicht zementiert haben“, weiß Sarah Kinzebach. „Ein Dorf sollte nicht queerfeindlich sein. Wir wollen niemanden gefährden.“
Die Tourdaten stehen. Treffpunkt ist in der Oberdorfstraße hinter dem Jesuskreuz, zwischen Gasthof Engel, der seit Jahrzehnten keinen Pächter mehr hat, und einer Metzgerei, die mit der Veranstaltung bloß nichts zu tun haben will. Auch für das Plakat mit der Ankündigung ist im Schaufenster kein Platz. „Den Chef brauchen Sie erst gar nicht zu fragen“, sagt die Verkäuferin.
Zum Auftakt sollen ein paar Redner für ausgelassene Stimmung sorgen. Schön wäre eine Ansprache vom Bürgermeister der Gemeinde Upstadt-Weiher, zu der Zeutern gehört. Aber Tony Löffler ziert sich. „Ich überlasse das lieber meiner Stellvertreterin“, sagt er. Dafür haben sich die Pfarrer beider Kirchen angekündigt.
Wenig gemeinsam mit den großen CSDs
Danach soll sich der Demonstrationszug, unterstützt durch musikalische Beats und angeführt von einem Traktor, in Bewegung setzen. Gleich zu Beginn kommt ein gemeiner Anstieg. „Da müssen wir durch, im Dorf geht es halt rauf und runter“, sagt Sabine Zimmerer. Ein paar Windungen weiter führt die Tour durch ein gepflegtes Wohngebiet, wo sie früher immer durchgeradelt ist, wenn sie zum Spielplatz wollte. Auf dem Rückweg streifen sie auch ein Seniorenzentrum. „Die Alten freuen sich am meisten auf uns“, sagt Sarah Kinzebach. In Mühlhausen saßen sie in Rollstühlen am Straßenrand und wedelten mit kleinen Regenbogenfähnchen. Linkerhand kommt dann noch der Country Club, der Weltladen, und schon sind sie wieder am Ausgangspunkt.
Mit den großen CSDs haben die Dorfprides wenig gemein, weder atmosphärisch noch wirtschaftlich. „In Mannheim geben Firmen wie BASF oder Roche Unsummen für einen geschmückten Wagen und Werbegeschenke aus“, erzählt Kinzebach, die auch den CSD in Mannheim mitorganisiert. „Da müssen wir aufpassen, dass die Firmen uns nicht für Werbezwecke missbrauchen. Wir verlangen daher Nachweise, dass Diversität auch im Firmenalltag unterstützt wird.“
In Zeutern sind sie schon froh, wenn die Betriebe ein wenig Geld für Flyer und die Musikanlage spenden. Zum Dank stellt das Orga-Team das Logo der Spender auf seine Webseite www.dorfpride.de. Einige wollen das aber gar nicht. „Sie spenden nur unter der Bedingung, anonym zu bleiben“, erzählt Sabrina Zimmerer. Immerhin acht Betriebe bekennen sich als Unterstützer, darunter Alteingesessene wie Heizung Sanitär Staudt und Tankschutz Rothermel.
Die Teilnehmenden können auch nicht mit dem Glücksrausch rechnen, der sich inmitten von Menschenmassen einstellt. „Wir hoffen, dass mindestens 500 mitlaufen“, sagt Sarah Kinzebach. Anders als im anonymen Großstadtumzug ist jeder und jede Einzelne gefordert, mit den Dorfbewohnern ins Gespräch zu kommen. „Wir werden oft von Passanten gefragt: Was wollt ihr bloß? Ihr habt doch alle Rechte.“ Dann können sie erzählen, was vielen nicht bekannt ist: Dass laut Umfragen immer noch jeder Vierte Vorurteile gegenüber Homosexuellen hat, im ländlichen Raum dürften es noch mehr sein. Sie können erzählen, welchen emotionalen Stress es bedeutet, sich zu outen und ständig zu beweisen, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Und dass es nur ein Mittel gibt, um Vorurteile abzubauen: sich zu zeigen.
Legt man vereinfachte Schätzungen zugrunde, wonach jeder Zehnte homo- oder bisexuell ist, käme man in Zeutern auf 300 Menschen. „Vielleicht können wir queere Teenager mit unserem Auftritt ermutigen, sich so anzunehmen, wie sie sind“, sagt Kinzebach. „Wer nicht queer ist, kann sich den seelischen Stress nicht vorstellen, wenn man immer so tut, als sei man hetero.“ Schon jetzt hat die Pride in Zeutern etwas in Bewegung gesetzt: Die Chatgruppe, die das Event begleitet, hat mehr als 20 Teilnehmende.
Das Orga-Team fängt in jedem Dorf bei Null an
Die Überzeugungsarbeit, die Sarah Kinzebach und ihr Team leisten müssen, beginnt allerdings schon Wochen vor dem Event. „Wir müssen zuerst die Bedenken der Gemeinde zerstreuen, dann die Vereine mit ins Boot holen, die Kirchen, das Gewerbe.“ Manchmal kommt der Widerstand sogar aus der queeren Community selbst. „Manche sagen: Ich lebe hier und will meine Ruhe. Jetzt kommt ihr mit eurem CSD, und ich werde darauf angesprochen, ob das meine Idee war.“
Auf Erfahrungswerte können die Organisatoren nicht zurückgreifen. Jedes Dorf ist anders. „Wir wissen nur, wir müssen jedes Mal bei Null anfangen.“ Das dürfte auch der Grund sein, warum die Dorfpride nach fünf Jahren keine Nachahmer findet. „Natürlich werden in kleinen Gemeinden CSDs veranstaltet, etwa in Mosbach oder Memmingen. Aber eine Pride, die von Dorf zu Dorf zieht, ist bundesweit einmalig“, sagt Kinzebach.
Kraft schöpft das Orga-Team aus positiven Überraschungen. Wie in Ladenburg.„Beim Erstgespräch im Rathaus hatten wir nicht den Eindruck, dass der Bürgermeister Bock auf uns hat.“ Zwei Wochen vor der Pride hingen aber dann an allen sechs Fahnenmasten der Gemeinde Regenbogenflaggen. Auch der Wasserturm, ein Wahrzeichen von Ladenburg, wurde bunt angestrahlt. Zum Auftakt der Pride sprach Bürgermeister Stefan Schmutz als Erster: „Liebe lässt sich nicht verordnen und die Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit und Identität nicht verhandeln.“ Überrascht wurden sie auch vom Landratsamt des Rhein-Neckar-Kreises, das anbot, die Druckkosten für die Werbung von rund 1000 Euro zu übernehmen – nicht nur ein Mal, sondern bei jeder Dorfpride im Rhein-Neckar-Kreis. „Diese Summe fehlt uns dieses Jahr“, sagt Kinzebach.
Bei allen Widrigkeiten ist ihnen bewusst, wie viel schwerer es ihre Mitstreiter im Osten Deutschlands haben. In Leipzig und Weißenfels griffen Rechtsextreme CSD-Teilnehmer an, in Döbeln wurde kurz vor dem Auftakt Buttersäure am Bahnhof versprüht. Aber auch im baden-württembergischen Albstadt hatte die Polizei zuletzt alle Hände voll zu tun. Die identitäre „Zollern Jugend aktiv“ und die rechtsextreme NPD-Nachfolgepartei „Die Heimat“ hatten zu einer Gegendemo unter dem Motto „Nein zum Genderwahnsinn“ aufgerufen. Das wiederum hatte antifaschistische Gruppen mobilisiert. Nur mit viel Präsenz und Pfefferspray konnte die Polizei schlimmere Zusammenstöße verhindern.
Zeutern ist von radikalen Kräften bisher verschont geblieben. Sabrina Zimmerer ist trotzdem nervös. „Ich stehe auf der Rednerliste und weiß noch nicht recht, was sagen.“ Und vielleicht wird irgendwo zwischen den Zuhörern ihre Mutter stehen.
Weitere Informationen zum Ablauf der Dorfpride in Zeutern: www.dorfpride.de