Björn Gottstein ist Festivalleiter der Donaueschinger Musiktage Foto: Leif Piechowski

Die Donaueschinger Musiktage experimentieren 2017 mit neuen Konzertformaten. Die Szene hält Einzug auf der Konzertbühne, und das Publikum wird in die Präsentation einbezogen.

Donaueschingen - Suchen, fragen, ausprobieren. Das Experimentieren ist seit jeher der Grund-Impetus der Donaueschinger Musiktage, und Deutschlands wichtigstem und ältestem Neue-Musik-Festival ist es neben zeitgenössischen Klängen immer auch um deren Präsentation gegangen. Da gab es eine Oper in mehreren Stationen; da drückten sich staunende Musiker an der Glaswand einer Turnhalle vor dem dort versammelten Publikum die Nase platt, als sei dieses ein vielköpfiges exotisches Wesen in einer Vitrine; da brach ein Orchester das Kollektiv auf, zerbröselte in Individuen. Dass die Musiktage 2017 einen besonderen Fokus auf das Experimentieren mit neuen Konzertformaten und Präsentationsformen legen, ist allerdings neu. Und hat, glaubt man dem Festivalleiter, einen besonderen Grund: „In der Neuen Musik“, sagt Björn Gottstein, „haben wir jeden denkbaren Parameter der musikalischen Gestaltung hinterfragt und erneuert. Aber die Konzerte selbst laufen meist auf ziemlich gewöhnliche Weise ab.“ Ist das, fragt Gottstein, statthaft? Ist es noch angemessen?

Ein zweischneidiges Schwert. Die traditionelle Konzertsituation (Applaus, Licht aus, Musik an) fördert die Konzentration. Sie macht es möglich, ganz Ohr zu sein. Sie ist, wie Gottstein es formuliert, „wie ein Rahmen bei einem Bild. Und zeitgenössische Kunstwerke im Museum hängen auch nicht in alten Rahmen.“ Also müsse sich ein Festival für Neue Musik unbedingt auch überlegen, ob man nicht auch auf neue Weise gute Hörsituationen herstellen könnte. Aufmerksamkeit wolle man damit vor allem wecken – schließlich sind die Donaueschinger Musiktage ein Feuer, das weitergetragen wird, und wer weiß, wo und wie dieses dann weiter brennt.

Auch das Publikum wird mobil gemacht

Sehr unterschiedliche Experimente zum Thema sind am Samstag und Sonntag zu erleben. Zum Beispiel beim Konzert des Solistenensembles Kaleidoskop. Dort versucht ein Regisseur (Laurent Chétouane), den üblichen frontalen Ablauf aufzubrechen; passend zum Thema „Transit“ wird das Publikum wechselweise bewegt und zum Stillstand gebracht. „Mir gefällt die Vorstellung“, sagt Björn Gottstein, „dass das Ganze dem Publikum auch ein bisschen unangenehm sein kann. Bei einem normalen Konzert im schönen, weichen Plüschsessel zu sitzen, ist mir manchmal ein bisschen zu gemütlich.“

Ohne ein von außen aufgesetztes Regiekonzept kommt das Konzert mit dem Ictus-Ensemble aus – weil die ausgewählten Werke von sich aus den traditionellen Rahmen und der traditionellen Aktionsradius der Musiker sprengen. Am drastischsten wohl bei Martin Schüttler: In dessen Stück „Container-TV“ ist die Bühne leer, die Musik wird per Video aus Containern übertragen, und zwei Moderatorinnen von SWR 4 (!) kündigen das Werk an – „mit einer anderen Anmutung“, wie es Gottstein formuliert. Das sei „nur eine leichte Verschiebung innerhalb des Handlungsraums, bei der nichts verletzt wird, die aber einiges verändert“. Auch beim Verlassen des Saals wird die Autonomie des Publikums leicht beschnitten.

Bill Dietz hat aus Hustern im Konzert eine Performance gemacht

Fehlt noch: Bill Dietz. Der US-amerikanische Komponist und Kulturwissenschaftler, von 2011 bis 2013 Stipendiat der Akademie Schloss Solitude, arbeitet mit seinen kulturhistorischen Studien zu Konzertformen und Publikumsverhalten an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst. Als sich Dietz zuletzt sämtliche dokumentierten Applause bei den Donaueschinger Musiktagen anhörte, stellte er fest, dass Klaus Hubers „Die Seele muss vom Reittier steigen“ mit achteinhalb Minuten den längsten Beifall bekam. Bei der Uraufführung der ersten Komposition einer Frau in Donaueschingen, Tona Scherchens „Wai“ für Stimme, Streichquartett und Schlaginstrumente, hat das Publikum 1968 hingegen extrem viel gehustet – diese Huster hat Dietz in einer Partitur zusammengeführt, die jetzt in Donaueschingen erklingt. Auch Dietz’ Klatsch-Studie „L’école de la claque“ ist als Performance zu erleben – als (durchaus humorvolle) Begegnung mit der anderen Seite der Musikgeschichte.

Sogar in das Abschlusskonzert der Musiktage wird das Experimentieren mit Präsentationsformen einfließen – wie genau, will Björn Gottstein noch nicht verraten, nur dass das Publikum bei einem Stück eine besondere Rolle spielen wird. Frage an den Festivalchef: Ob er so auch ein anderes, neues Publikums anlocken wolle? Nein, nein, winkt Gottstein ab. Natürlich glaube er, dass eine entspanntere Atmosphäre im Konzertsaal Schwellenangst mindern könne. „Aber das Gewinnen neuer Zuschauer muss über die Musik selbst gehen. Wenn wir sagen, man darf auch ein Bier mit in den Saal nehmen, dann ist das nicht die Lösung des Problems.“

Termin 20. bis 22. Oktober

www.swr.de/donaueschingen