Szene aus dem Multimedia-Musiktheater „Thinking Things“ des Altmeisters Georges Aperghis Foto: Chevrier/SWR

Currentzis kommt! Bei Deutschlands größtem Festival für zeitgenössische Musik wurde ein Auftritt des neuen SWR-Chefdirigenten für 2020 angekündigt. Der Rest war Kunst mit reichlich Stoff für Diskussionen.

Donaueschingen - Sie ist intelligent, kreativ, wach, umtriebig, erfahren, weitblickend, hochsensibel. Zu Recht zählt Isabel Mundry, Jahrgang 1963, seit langem zu den interessantesten und erfolgreichsten unter den international aufgeführten Komponistinnen und Komponisten. Zwei ihrer Werke wurden bereits dort uraufgeführt, wo man gespielt werden muss, um wahr- und ernstgenommen zu werden, und bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen standen gleich zwei weitere Stücke von ihr auf dem Programm. In beiden hat die in München und Zürich lehrende Komponistin einen heftig angefeindeten Schritt getan: nämlich die Welt, wie sie geworden ist, die Welt der Migrantenströme und der von Angst und Gewalt begleiteten nationalistischen Abschottung, in ihre Klänge hineinzulassen. Dass sich Kunst unserer Zeit Gedanken über deren große Probleme macht, ist nicht neu und durchaus wichtig. Die Frage ist nur, wie man das tut und wie weit man dabei geht, und an dieser Frage entzündeten sich jetzt in Donaueschingen heiße Diskussionen.

Was ist passiert? Isabel Mundry hat ein Gespräch protokolliert, das sie mit einem syrischen Flüchtling geführt hat. Und sie hat ein Video gesehen, das nach dem Amoklauf eines Deutsch-Iraners 2015 in München gedreht wurde und den Attentäter zeigt, der sich mit einem Anwohner ein Schrei-Duell liefert. „Mouhanad“ heißt das erste Stück, komponiert für das SWR-Vokalensemble; „Hey!“ ist der Titel des zweiten, jetzt uraufgeführt vom Ensemble Modern und den Neuen Vocalsolisten Stuttgart. „Mouhanad“ ist die Kurzform eines erzählten Lebens voller Traumata, ein von den Männern des Chores skandierter, von den Frauen hinter vorgehaltenen Händen mit kurzen, an melodische und harmonische Gesten Luigi Nonos erinnernden gesungenen Einwürfen kommentierter Text. „Hey!“ ist ein instrumental karg garnierter Dialog zwischen Stimmen aus dem Off und den sechs Sängern auf der Bühne. Beide Werke zeugen von der tiefen Irritation einer Künstlerin, die sich von den Weltläuften in eine existenzielle Krise gedrängt sieht und spürt, dass sie so wie bisher einfach nicht weitermachen kann. Rein künstlerisch sind sie aber enttäuschend: weil sich die gespiegelte Welt in ihnen nicht verwandelt. Weil die Kunst, tief durchtränkt von politischer Betroffenheit, hier ihre Seele verkauft. Kunst ist nur dann stark und überzeugend, wenn sie ganz frei und ganz bei sich selbst bleibt. Dass dies zumal die sprach- und begriffslose Tonkunst dann in ein schweres Dilemma stürzt, wenn sie zeitnah auf die Gegenwart reagieren will, liegt auf der Hand. Isabel Mundrys neue Stücke sind an ihrer Distanzlosigkeit gescheitert, aber es ist der Komponistin hoch anzurechnen, dass sie – und auch das ist Wesen und Aufgabe von Kunst – sicheren Antworten ein radikales Fragen vorgezogen und die Irritation des auch im Neue-Musik-Bereich durchaus schubladenmäßig organisierten Marktes riskiert hat.

In diesem Jahr gab es eine besonders große Vielfalt

Die Diskussion wird weitergehen. Auch über anderes, denn die Donaueschinger Musiktage haben in diesem Jahr besonders vielfältige Werke, Formen und Denkansätze verhandelt. Um das Verhältnis von Mensch und Maschine kreisten rein elektronische Werke ebenso wie ein virtuos durchgestyltes Multimedia-Musiktheater des Altmeisters Georges Aperghis („Thinking Things“), bei dem sich live Gespieltes und Videoprojektionen, Menschen und Roboter, Stimmen und Tonbandeinspielungen, Mechanisches und Poetisches bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander flechten. Aperghis’ Stück lebt vor allem von einer übergroßen Lust am Spiel – ebenso wie Brigitta Muntendorfs „Ballett für Eleven“, ein Post-Dada-Stück, bei dem Musiker, begleitet und gespiegelt von virtuos koordinierten Videobildern, zu blond behaarten und schrill bebrillten Puppen werden. Beide Stücke können gehört, müssen gesehen, dürfen aber nicht nach ihrem letzten Sinn befragt werden.

In gewisser Weise gilt das auch für Musik, die vor allem Klang sein will. Die gab es bei diesem Festival natürlich auch. So verarbeitet etwa der zurzeit allerorten populäre Enno Poppe in seinem groß dimensionierten Stück „Rundfunk“ historische Computerklänge des letzten Jahrhunderts: Mit dem Komponisten als „Konzertmeister“ ganz links sitzen acht weitere Musiker von Poppes Ensemble Mosaik an Synthesizern, arbeiten sich an Reglern eine Stunde lang durch das neu zusammengemixte alte Klangmaterial, durchschreiten auf formal überraschend konventionelle Weise zwei schnelle Sätze und einen langsamen, und wer sich einlässt auf das durchaus etwas nerdig wirkende, vielleicht in der Länge auch leicht überreizte Spiel, der erlebt lauter bunte Klangfarb-Überraschungen. Obertöne, Zwischentöne, Mikrointervalle, ein Spiel mit Erinnerungen, das zuweilen wirkt wie eine Mischung aus beschleunigtem Feldman und Kraftwerk-Hommage, und nichts ist hier Selbstzweck, Tick oder bloße Dekoration.

Die unerreichte Eigenart des Klangforums Wien erlebte man in den (fast nach Mahler-Art) gebrochenen Utopien von Francesco Filideis „Ballata Nr. 7“ wie auch bei der Begegnung mit einem jungen Georgier: Koka Nikoladze gibt in „21. 10. 18“ vom Mischpult aus Spielanweisungen auf die interaktiven Notenpulte der Musiker, die so zu einer Art akustischem Synthesizer werden. Seine Spontan-Komposition ganz ohne Komponiertes ist von hoher Energie.

Malin Bangs Stück „splinters of ebullient rebellion“ ist eine virtuose Orchestererkundung

Mit leiser Intensität bohrt sich das norwegische Cikada-Ensembles bei Klaus Langs „Parthenon“ in die Herzen von Akkorden (mitsamt prominenten Quinten und Sexten), die präzise ausgehorcht, abgetastet und gegeneinander verschoben werden. Im Konzert des Ensembles Modern fasziniert bei Oscar Strasnoys Hommage an den subtil-verdeckten Klang der Viola d’amore („d’Amore“) vor allem die feine Kunst des Bratschers Garth Knox. Einem weiteren historischen Instrument wendet sich Ivan Fedele in seinem Orchesterstück „Air on Air“ zu: Virtuos bläst Michele Marelli das Bassetthorn, und für das feine klangliche Gewebe drumherum sorgt das SWR-Symphonieorchester. Im Eröffnungskonzert präsentiert dieses, unterstützt von den Technikern des Pariser IRCAM, außerdem ein ungewöhnliches Stück des Stuttgarter Komponisten Marco Stroppa: Bei „Come play with me“ ersetzt ein Lautsprecherturm auf der Bühne den Solisten, es gibt wundervolle gemeinsame Momente des Gebens und Nehmens zwischen live gespielter Musik und Elektronik, die aber leider im Laufe der Zeit an Kraft und Leben verlieren. In ihrem Stück „splinters of ebullient rebellion“, das am Ende des Festivals zurecht mit dem Orchesterpreis ausgezeichnet wurde, horcht Malin Bang den Klangkörper bis in exotische Klang-Kapillaren hinein (Schreibmaschinen, Drehorgel) aus, macht aus den Tutti-Musikern (auch singende!) Individuen.

Es ist schade, dass das Orchester im Abschlusskonzert lediglich bei einem von der Musikgeschichte überholten Werk seine Klasse beweisen konnte: Hermann Meiers 1965 komponiertes Klangflächen-„Stück für großes Orchester und Klavier“ erlebt hier zwar seine verspätete Uraufführung, aber die Patina ist spürbar. Und Benedict Masons musikalisch eher bescheidenes „Ricochet“ bewegt zwar viele Musiker in den Gruppen durch den Raum, sonst aber nichts und niemanden. Glücklich also, wer sich derweil von Klanginstallationen und Performances im Schlosspark und an anderen Orten der Stadt bezaubern ließ. Oder wer der verdunkelten Turnhalle den besonnten Marktplatz vorzog und dort den Comic über Merkwürdigkeiten der Neue-Musik-Familie anschaute, mit dem der Festivalchef Björn Gottstein in diesem Jahr den sonst oft so tief gründelnden Essay im Programmbuch ersetzt hatte. Manchmal ist auch ein Lächeln schön, trotz allem.