Das Solistenensemble Kaleidoskop will die Front zwischen Interpreten und Publikum auflösen. Foto: Sonja Müller

Magere Bilanz nach gut zwanzig von 25 Uraufführungen beim Neue-Musik-Festival des SWR: Die meisten Werke erschöpfen sich in szenischer Dekoration, inszenierter Provokation oder im Experimentieren mit ungewohnten Konzertformaten.

Donaueschingen - Skandalgeschichtlich gesehen, hatten es Igor Strawinsky und Arnold Schönberg gut: weil sie noch Grenzen vorfanden, die es zu überschreiten galt. Heute rennen Komponisten, die provozieren wollen, lauter offene Türen ein, und wenn sie versuchen, etwas doch einmal ganz anders zu machen als gewohnt, ist der Beifall der Zuhörer anschließend bloß ein bisschen leiser und kürzer als anderswo. Selbst in den Turnhallen und Mehrzwecksälen von Donaueschingen gleicht das Publikum mittlerweile dem Abo-Publikum daheim: Man hat sich gemütlich eingerichtet selbst zwischen tönenden Experimenten, und wenn dem einen oder anderen die akustischen Abenteuer doch mal zu lang(weilig), zu laut oder zu wild sind, dann gähnt er leise, beugt in stillem Leiden den Kopf zum Boden oder wirft schüchtern ein kurzes Buh in die Runde. Und weiter geht’s.

Es ist nur allzu verständlich, wenn der künstlerische Leiter der Donaueschinger Musiktage daran etwas ändern will. Zu fragen ist allerdings, ob die Veränderung von Präsentationsformen und das Hinterfragen von Publikumsreaktionen daran etwas ändern können. Zu beobachten war außerdem, dass der verstärkte Blick auf Außermusikalisches dem Kerngeschäft eher abträglich ist – ja, dass er manchen Komponisten womöglich dazu bringt, der eigenen Kraft der begriffslosen Kunstform Musik noch weniger zuzutrauen als zuvor.

Es ist eine Ironie des gesetzten Themenschwerpunkts, dass dieser ausgesprochen zahlreiche Stücke mit hohem Wuterregungspotenzial hervorbrachte. Ein so mageres künstlerisches Ergebnis wie 2017 gab es bei Deutschlands ältestem und renommiertestem Festival für zeitgenössische Musik schon lange nicht mehr. Und eigentlich ist es ein Skandal, dass das erste Stück des Eröffnungskonzertes mit dem SWR-Symphonieorchester nur wenige Menschen im Saal aufregte. Sein Ziel, durch eine Aneinanderreihung musikalischer Floskeln aus Nachrichtentrailern deren Flachheit bloßzustellen, hat der Australier Thomas Meadowcroft in „The News in Music“ jedenfalls beim Komponieren derart aus den Augen verloren, dass man die kleinen Brüche zwischen selbstgenügsam wallendem filmmusikalischem Pathos gar nicht mehr wahrnimmt.

Der Komponist als Masseur

Oyvind Torvunds Stück „Archaic Jam“, das ebenfalls ein Zuviel (hier: an emotional aufgeladenen melodischen Gesten) ausstellt, wirkte nur deshalb nicht gar so misslungen, weil das Stück nur halb so lang und außerdem deutlich straffer gearbeitet ist. Das vollständige Desaster im Eröffnungskonzert verhinderten nur das nach bekanntem Bernhard-Lang-Strickmuster gut gefertigte Stück „DW28“ mit einem grandiosen Solisten (Gareth Davis an der Bassklarinette) sowie das Tripelkonzert für Harfe, E-Gitarre und Klavier („a doppio movimento“) von Andreas Dohmen, in dem der glänzend instrumentierende Komponist den Klangkörper Orchester bis zur letzten Muskelfaser durchwalkt wie ein guter Masseur.

Weitere gute, interessante Stücke? Überragend wirkte trotz seines Alters das posthum uraufgeführte Werk „Un calendrier révolu“, in dem der 2012 verstorbene Komponist Emmanuel Nunes schon 1968 wichtige Errungenschaften der Neuen Musik mit frappierendem Sinn für Struktur und Dramaturgie in sehr sinnliche Klänge fasst (Remix-Ensemble).

Feine, spielerische Klangmaschinen haben Marianthi Papalexandri-Alexandri und Pe Lang gebaut, und neben so Ulkigem wie Klangkunst mit präparierten Streifenkauzeneiern führte Werner Cee Spaziergänger im Schlosspark durch einen klingenden Klang-Wort-Parcours. Eugene Chadbourne brachte bei einem Soloauftritt Bach und Banjo, E-Musik und Männerschweiß zusammen – und überzeugte vor allem dort, wo er den alten Barocken hinter sich ließ und einfach nur einen schlichten Countrysong anstimmte. Und im Konzert des Ensembles Musikfabrik überzeugten die „Lessons in Darkness“ des Norwegers Eivind Buene schlicht dadurch, dass sie sich – welch eine Erlösung! – auf kluge Weise endlich mal wieder mit dem musikalischen Material, mit musikalischen Strukturen und mit der Arbeit am Klang beschäftigten. Man braucht, zeigt Buenes schlichtes, schönes Stück, eigentlich gar nicht viel, um Zuhörer in Donaueschingen zu begeistern.

Francesca Verunelli hat mit „Man sitting at the piano I“ ein Werk geschrieben, dessen Dialog zwischen einem Flötisten und einem Player Piano nicht nur wegen seines fein gestalteten Beziehungsgeflechts zwischen Mensch und Maschine etwas reizvoll Eigenartiges hat. Aber im Konzert des belgischen Ictus-Ensembles blieb Verunellis Werk das einzig überzeugende. Der Rest der aufgeführten Werke erlag dem Overkill des Außermusikalischen – mit besonders schlimmen Folgen dort, wo Martin Schüttler in „My mother was a piano teacher“ die eigene Sozialisation und Situation als Musiker erst plattitüden- und wortreich von zwei Moderatorinnen rezitieren, dann von Musikern, die hinter Bühne in Einzelzellen agieren, in kurzen Sequenzen in Bild und Ton ausführen ließ, in einem Fall sogar mit einem großen Buchstaben N neben der Gitarre – als würde sich heute noch einer um die kleine oder groß geschriebene Neue Musik scheren.

Ein Quäntchen mehr Streitkultur wäre schön

Im Schatten von Performance, Kontextualisierung, Selbstreflexion und Präsentation nahm nicht nur bei Schüttler die musikalische Substanz Schaden. Die Mitglieder des Ensembles Kaleidoskop ließen sich von einem Lkw in den Konzertsaal befördern; anschließend betteten sie in ihrem „Transit“ betitelten, von Laurent Chétouane inszenierten Konzert vier Stücke in szenische Aktionen ein. Ziel sollte es sein, die Front zwischen Interpreten und Publikum aufzulösen, deshalb wurden die Zuhörer von den Musikern auseinander-, zusammen- und durch den Raum getrieben. Ein nettes Experiment, von dem allerdings klanglich nur wenig im Gedächtnis blieb. Fluchtgedanken produzierte schließlich Alexander Schuberts mit dem Pariser IRCAM und dem Ensemble Intercontemporain produzierte Performance „Codec Error“, bei der sich drei Musiker unter immer nur kurz aufblitzendem Stroboskoplicht bewegten. Geschätzt fünf Minuten lang mochte man die große Präzision der rhythmischen Gleichschaltung von Bewegung, Licht und (lauten, Techno-affinen) Beats bewundern; der Rest war erschöpfend grell, lang und laut.

Bei der „Schule des Klatschens“, die Bill Dietz in diesen Tagen in Donaueschingen installierte, konnten Freiwillige verschiedene Arten des Beifalls einstudieren und anschließend in Konzerten einspeisen. Auch warfen Studenten im Auftrag des US-Amerikaners Zettel von der Empore, auf denen sie ihre Claqueur-Dienste gegen Bezahlung anboten. Andere standen auf, um dem Publikum die Sicht zu verstellen, oder verließen während einer Aufführung in großer Menge den Saal. Die Aktionen wirkten, naja, ein wenig handgestrickt – aber genervt zeigte sich auch von ihnen keiner.

Vielleicht sollte man mal eine Schule des Buhrufens in Donaueschingen installieren. Etwas weniger Gemütlichkeit und ein Quäntchen mehr Streitkultur wären der Qualität der klingenden Kunst ganz gewiss nicht abträglich – vor allem dann nicht, wenn diese noch ein bisschen mehr nur sie selbst sein dürfte.