Der Dokumentarfilm „Alphabet“ zeigt Pauken in Reih und Glied in China, wo der Leistungsdruck immer mehr Schüler in den Suizid treibt und die Nachhilfeindustrie börsennotiert ist. Foto: Verleih

In „We Feed the World“ offenbarte Erwin Wagenhofer haarsträubende Zustände in der Nahrungsmittelindustrie, in „Let’s Make Money“ beleuchtete er kurz vor der Krise den Irrsinn des Finanzmarkts. In „Alphabet“ nun hat er unser aller Bildung im Visier.

In „We Feed the World“ offenbarte Erwin Wagenhofer haarsträubende Zustände in der Nahrungsmittelindustrie, in „Let’s Make Money“ beleuchtete er kurz vor der Krise den Irrsinn des Finanzmarkts. In „Alphabet“ nun hat er unser aller Bildung im Visier.
Stuttgart - Herr Wagenhofer, wieso Bildung?
Kinder kommen wissbegierig zur Welt. Wenn ein Kleinkind einen Zuckerstreuer sieht, schaut es, was da rauskommt, es tastet und schmeckt. Kinder bringen alles mit, man muss sie nur begleiten und zusehen, dass ihr authentisches Selbst, wie es so schön heißt, erblühen kann. Doch die Neugier wird ausgetrieben, spätestens in der Schule. Das habe ich bei meinen Kindern gesehen.
Hatten Sie pädagogische Vorkenntnisse?
Genauso wenig wie beim Geld und der Nahrung, Und das ist, glaube ich, die größte Kraft. Es gibt genug Filme von Pädagogen, die sich im Kleinen verlieren. Mein Film ist kein Film über Bildung, sondern ein Film über die Haltung dahinter. Unser Bildungsideal ist das vom mündigen Bürger, der selbstständig denkt – ein ganz hehres Ziel, von dem wir uns ganz weit entfernt haben.
Inwiefern?
In den Schulen geht es nicht um das Glück der Kinder oder darum, wie sie besser lernen. Wir haben keine Bildung mehr, nur noch Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb im Sinne des Wirtschaftssystems. Das ruiniert uns.
Was meinen Sie damit?
In Frankfurt im Finanzdistrikt werden Sie niemanden finden, der nicht mindestens ein Wirtschaftsstudium absolviert hat, die meisten an Eliteuniversitäten wie Harvard oder St. Gallen. Überhaupt bringen Leute mit formal hohen Bildungsabschlüssen den Planeten an den Rand seiner Möglichkeiten.
Zum Beispiel?
Das Bienensterben. Bienenvölker werden zur Bestäubung von Plantagen benützt, zu Tode gestresst und dabei auch noch Insektiziden ausgesetzt. Die Idee wie auch die Insektizide werden ja nicht von Leuten aus bildungsfernen Schichten entwickelt, sondern von Leuten, die studiert haben. Oft haben diese Leute privat hohe ethische Ansprüche. Vielleicht essen sie biologisch mit ihren Familien. Und entwickeln gleichzeitig Ideen, die unsere Welt bedrohen.
Was konkret bemängeln Sie an den Schulen?
Unser Bildungssystem geht davon aus, dass Kinder leere Köpfe haben, in die man jeden Tag etwas einfüllt. Studien sagen, der Wirkungsgrad liegt bei 20 Prozent. Das ist Zeitverschwendung und gar nicht wirtschaftlich. Wieso muss jemand, der für Mathematik kein Talent hat, mit Differenzialrechnung gequält werden? Zugleich beklagen Manager wie Thomas Sattelberger im Film, dass Leute aus diesem Bildungssystem keine Entscheidungen mehr treffen können. Die Ökonomie hat sich die Bildung unterworfen, aber was dabei herauskommt, kann sie nun nicht gebrauchen.