Finanziell steht Ditzingen gut da – auch dank der Weltfirmen Thales und Trumpf (im Vordergrund). Der Wirtschaftsboom hat aber auch unerwartete Schattenseiten. Foto: Holger Leicht/Archiv

Der Ditzinger Oberbürgermeister Michael Makurath warnt vor einer sozialen Spaltung im Ballungsraum. Ein Gespräch über den Bedarf an Wohnraum, das Grundgesetz und Wasserrohrbrüche.

Ditzingen - Michael Makurath fordert eine politische Lösung, um die Wohnungsnot zu mildern. Eine Debatte über das Grundrecht auf Eigentum scheut er dabei nicht.

Vor zehn Jahren wollten Sie Landrat werden – wären Sie heute lieber Regionaldirektor?

Um Gotteswillen, nein! Aber wenn Sie die zehn Jahre ansprechen: Regionale Zusammenhänge drücken sich heute stärker aus, als vor zehn Jahren. Nehmen Sie das Beispiel Luftreinhaltung. Jede Veränderung in Stuttgart hat Auswirkungen auf das regionale Umfeld. Das Denken in anderen Kategorien ist nicht mehr zielführend. Diese Zusammenhänge betont man heute eher. Wir bewegen uns da offensiv, denn Ditzingen liegt nun mal an der Grenze von zwei Landkreisen und einem Stadtkreis.

Nach dem Rückblick die Vorausschau. Wo steht die Stadt in zehn, 15 Jahren?

Das wird von Dingen abhängen, die wir nicht beeinflussen können. Erstens von der wirtschaftlichen Entwicklung. Maschinenbau und Lasertechnik sind eng mit der Automobiltechnik verbunden. Die zweite Frage ist, ob wir die Entwicklung schaffen hin zur modernen Mobilität: Sind wir weiterhin ein attraktiver, erreichbarer Standort? Drittens, und das ist wesentlich: Gelingt es uns, Wohnraum für alle Schichten in Ditzingen anzubieten? Das wird eine ganz große Herausforderung sein.

Vor dieser Herausforderung steht die Stadt schon heute. Haben Sie zu spät reagiert?

Retrospektiv stellt sich immer die Frage, ob ich rechtzeitig bemerkt habe, dass der Wasserrohrbruch bevorsteht. Man hat uns bis vor wenigen Jahren vorgetragen, die Bevölkerung werde nicht wachsen, stattdessen vergreisen und schrumpfen. Auf diese amtliche Prognose haben auch wir uns verlassen, weil wir sie fachlich nicht falsifizieren konnten. Was keiner auf der Rechnung hatte, waren zehn Jahre Wirtschaftsboom. Der hat die Menschen in die Region gezogen, wie nie und hat damit den Druck auf den Wohnungsmarkt erhöht. Dazu kam, zweitens, die Flüchtlingszuwanderung. Das hat in der Summe zu einer völlig anderen Bevölkerungsentwicklung geführt. Dazu kam drittens die Nullzinspolitik, die erhebliche Kapitalströme in den Grundstücks- und Wohnungsmarkt umgeleitet hat.

Jeder, der kann, investiert in Immobilien.

Und der, der nicht kann, ist damit konfrontiert, dass dadurch die Preise explodieren. Aber selbst wenn wir das vor zehn Jahren gewusst hätten, wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen, für eine spürbare Entlastung zu sorgen.

Warum nicht?

Weil Wohnungsbau lange dauert, unglaublich viel Geld kostet und wir uns seit Jahren schwertun, Konsens über die Entwicklung neuer Flächen herzustellen.

Dabei besteht doch quer durch die Parteien Einigkeit: Es fehlen Wohnungen, Häuser, Neubaugebiete.

Aber in der Umsetzung sind sie mit Eigentümern und Anwohnern konfrontiert und stellen schnell fest, dass der Konsens äußerst brüchig ist. Und die rechtlichen Möglichkeiten sind eine Hülse, weil der Artikel 14 des Grundgesetzes zu mächtig ist.

Eigentum ist ein Grundrecht.

Ja, aber sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Es gibt in der Praxis allerdings so gut wie kein rechtliches Mittel, um dafür auch zu sorgen. Wer schon einmal ein Baugebot aussprechen wollte, der weiß das. Dafür muss es eine politische Lösung geben.

Sie drängen darauf?

Wie lange wollen wir zuschauen, dass sich eine soziale Spaltung im Ballungsräumen entwickelt, dass Leute keine Wohnung finden und nach außen gedrängt werden? Sollte man nicht eher Möglichkeiten schaffen, um Zugriff zu haben auf unbebaute Grundstücke, die seit Jahrzehnten vorgehalten werden, jeden Tag im Preis steigen, den Reichtum der Eigentümer vermehren, aber nicht zur Verfügung stehen, um ein gesellschaftliches Grundbedürfnis zu decken? Es gibt große Grundstücke, auch in Ditzingen, auf denen man viele Wohnungen bauen könnte – aber die Eigentümer wollen nicht. Und Neubaugebiete scheitern, weil in der Umlegung immer einer nicht mitmacht. Das kann sich ein Staat in der Situation, die wir gerade haben, nicht mehr lange leisten.

Warum?

Die Menschen verlieren das Vertrauen in den Staat. Wenn sich die Menschen keine Wohnung mehr leisten können, ist es nicht so, als könnten sie sich kein Auto mehr leisten. Zu einem Auto gibt es schließlich eine Alternative. Aber wenn die Menschen keine Wohnung mehr finden oder die Kinder wegziehen müssen, weil sie am Ort kein Haus kaufen können – das macht richtig zornig. Da muss sich etwas tun. Das wird gegen das Gewicht des Eigentums aufgewogen werden müssen.

Wünschen Sie der Region mehr Einfluss?

Das würde nichts helfen. Ich finde wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht an der Region liegt, dass der Wohnungsbau nicht voranschreitet. Es gibt in der Region mehr als genug entwickelbare Flächen, nur die Kommunen schaffen die Umsetzung nicht oder wollen sie nicht. Man kann darüber streiten, ob es vernünftig war, neue Einflussmöglichkeiten für die Bevölkerung zu schaffen, so dass Bürger heutzutage etwa über einen Bürgerentscheid einen Bebauungsplan verhindern können.

Es gibt Kommunen, in denen Bürger Wohngebiete verhindert haben.

Das ist demokratisch legitimiert, aber in der Summe führt uns das keinen Schritt weiter. Letztlich wird die Politik daran gemessen, ob es ihr gelingt, Wohnungen, die sich Menschen leisten können, dort, wo sie nachgefragt werden, auch anzubieten.

Dafür muss auch der öffentliche Personennahverkehr ausgebaut werden.

Ja. Das wird auch erheblich kosten, weil der Takt verdichtet werden muss und weitere Fahrzeuge benötigt werden. Aber die Gesellschaft muss auch bereit sein, ihren Beitrag dazu zu leisten. So wie bei der Straße muss man es beim Schienen- und Busverkehr auch halten.

Die Gesellschaft ist noch nicht so weit?

Nein, weil die Mobilität ein reales Bedürfnis ist mit irrationalen Anteilen. Die Freiheit, die damit verbunden ist, berührt ein menschliches Grundbedürfnis. Deshalb sind die Leute sehr ungnädig, wenn in ihre individuelle Mobilität eingegriffen wird, beispielsweise durch Fahrverbote. Aber in die Londoner Innenstadt fährt keiner mehr mit dem Auto. Und in Tokio kauft keiner eins, der nicht einen Parkplatz nachweisen kann. Bei uns wird manche Diskussion noch so geführt, als könnte die Kommune jedem Autobesitzer einen zehn Quadratmeter großen Parkplatz am Ziel seiner Fahrt bereit stellen – was nicht der Fall ist.

Wir haben bisher nur über die Region gesprochen. Während Politiker auch aus wirtschaftlichen Gründen in immer größeren Rahmen denken, fühlen sich die Bürger nur in einem überschaubaren Umfeld zuhause, also im Ortsteil oder im Wohnquartier. Wo positioniert sich da die Kommune?

Kommunen sind immer dem Bürger verpflichtet, und nur dem Bürger. Die Frage ist, wie man es hinbekommt, dass er sich wohlfühlt. Auf dem Weg dahin sind unterschiedliche staatliche Verwaltungsebenen, ob Land, Region oder Landkreis unsere Gesprächspartner, die jeweils für bestimmte Aufgaben die richtige sind.

Wenn der Gemeinderat zuletzt vom Landkreis sprach, dann nur kritisch. Der Landrat drohte, trotz mangelnder Unterbringungsmöglichkeiten Flüchtlinge auf dem Laien abzusetzen. Und die Familienpaten kämpfen Jahr für Jahr um ihre Existenz. Gibt es auch etwas Gutes zu berichten?

Natürlich. Gerade bei den Familienpaten hat sich der Landrat erheblich bewegt. Vielleicht nicht in der Form, wie wir es uns gewünscht hätten, indem die Kinder- und Jugendhilfe des Landkreises sie in den eigenen Förderkanon aufgenommen hätte. Aber man hat nun andere Wege gefunden, das Angebot zu unterstützen.

Es geht aber auch anders, wie etwa der Kreis Göppingen beweist. Dort ist der Kreis Träger des Familienpatenprojekts.

Das Entscheidende ist doch die Bewegung. Wir haben eine Verbesserung erreicht: Die Ehrenamtlichen werden durch das Personal des Landkreises geschult. Mehr geht immer. Aber der Vergleich der Landkreise untereinander ist schwierig, man wird immer etwas finden, was es beim einen Landkreis gibt und beim anderen nicht. Aber umgekehrt eben auch. Bei uns hat sich etwas positiv bewegt. Wenn es noch besser geht, bin ich auch nicht unzufrieden. Und es ist ja nicht der letzte aller Tage.

Makurath positioniert seine Stadt in der Region

Der Rathauschef
Michael Makurath ist seit 1999 Oberbürgermeister der rund 24 500 Einwohner zählenden Großen Kreisstadt. Der 59-jährige parteilose Verwaltungswirt war bei seiner erneuten Wiederwahl 2015 einziger Kandidat. Makurath kam auf 95,1 Prozent.

Der Bewerber
Makurath zog 2008 seine Kandidatur für den Posten des Böblinger Landrats zurück, nachdem SPD und Freie Wähler mehrheitlich einen anderen Kandidaten nominiert hatten.

Der Regionalrat
Seit 2009 sitzt er für die SPD im Regionalparlament, ist Mitglied des Verkehrsausschusses.

Der Funktionär
Er gehört dem Hauptausschuss des Städtetags an, steht dem Finanzausschuss des Gemeindetags vor, ist Vizepräsident des Verbands baden-württembergischer Bürgermeister.