Der Ditzinger Oberbürgermeister sieht den Verlust des Gemeinsinns als eine mögliche Gefahr in diesen Tagen. Das Interview in der Corona-Krise wurde entgegen der Gepflogenheiten telefonisch geführt. Das Bild entstand bei einem früheren Gespräch. Foto: factum// Archiv

Das Land schränkt derzeit den Handlungsrahmen aller stark ein – auch den des Ditzinger Oberbürgermeisters. Dennoch sieht sich Michael Makurath tagtäglich gefordert. Ein Gespräch über den Kampf gegen die Pandemie, die Demokratie und Eisverkauf.

Ditzingen - Michael Makurath macht sich grundsätzlich stark für die Transparenz von Entscheidungsprozessen. Nun verteidigt der parteilose Ditzinger Rathauschef aber das Vorgehen des Landes – für begrenzte Zeit.

Herr Makurath, von der starken Stellung eines baden-württembergischen Rathauschefs ist derzeit nicht viel übrig, oder?

Beim Kampf gegen eine Pandemie ist es wie bei der Großwildjagd: Das Kaliber muss stimmen. Deshalb ist es notwendig, dass wir idealerweise bundeseinheitliche Rahmenrichtlinien haben, die vor Ort ausgefüllt werden müssen. Die Praxis zeigt, dass wir jeden Tag mit der Auslegung von Bestimmungen beschäftigt sind, etwa wenn es um die Zulässigkeit von Eisverkauf bei Mischsortimentern geht. Wir entscheiden nicht vor Ort über die großen Eckpunkte, aber wir wenden sie an, das fordert uns. Das kann aber auch keiner besser als wir, denn die Anwendung der Richtlinien soll für die örtliche Gemeinschaft vernünftige Ergebnisse bringen.

Sie wägen ab.

Korrekt, die Problematik ergibt sich aus der örtlichen Situation. Die Richtlinien sind abstrakt, sie müssen vor Ort konkretisiert werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Büchereien sind geschlossen, das empfinden Menschen als sehr schwierig, denn andererseits dürfen sie eine Pizza abholen. Kann man das auf die Büchereien anwenden? Wir haben entschieden, wir machen es nicht, weil wir nicht sicherstellen können, dass die Wartesituation nicht wieder Infektionsrisiken birgt. Wir haben dem Infektionsschutz Vorrang gegeben vor dem Interesse der Bevölkerung, sich mit Lesestoff versorgen zu können. Das kann man von Kommune zu Kommune unterschiedlich auslegen.

Mit der kommunalen Selbstverwaltung ist es dennoch nicht mehr weit her.

Das ist unumstritten, aber auch nicht änderbar. Die Einschränkung ist der Situation geschuldet und ich glaube, jeder kann nachvollziehen, dass dies derzeit notwendig ist. Insoweit kann einem die Vernunft nur sagen, dass dies so richtig ist. Das Gefühl sagt einem natürlich, das könne nicht endlos so bleiben.

Demokratie verträgt Abwesenheit schlecht. Aber auch die Ditzinger fassen Beschlüsse im Umlaufverfahren schriftlich. Warum?

Viele Projekte sind nicht zum Stillstand gekommen, die laufenden Baustellen, die Behebung von Brandschäden an einer Schule. Die können nicht warten, bis wieder eine reguläre Sitzung stattfindet. Deshalb haben wir mit dem Gemeinderat einen Weg gesucht, Themen, die wir in der Sache für unstrittig halten, zu einer Entscheidung führen zu können.

Trotzdem wird auf diese Weise auch entschieden, wenn die Zeit nicht drängt. Dabei ist die Debatte das entscheidende Moment.

Ja, aber es geht nicht um die Diskussion um der Diskussion willen, sondern um die Diskussion dort, wo sie notwendig ist, um zu einer Entscheidung zu kommen. Im Umlaufverfahren hätte jeder Gemeinderat Widerspruch einlegen können, dann wäre der Punkt auf die Tagesordnung einer Sitzung gelegt worden – wann auch immer sie stattfindet. Ich bin froh, dass der Gemeinderat aufgeschlossen mit dem Thema umgegangen ist, aber klar ist auch, er will zum normalen Sitzungsbetrieb zurück so schnell als möglich. Deshalb werden wir nach den Osterferien Sitzungen durchführen, in großen Sälen. Wir glauben, dass das vertretbar, aber auch notwendig ist.

Warum ist es gar notwendig?

Neben rechtlichen Zwängen, wie etwa bei Satzungen und Bebauungsplänen, einfach deshalb, weil Parlamentarismus und Demokratie vom Meinungsaustausch leben.

Ditzingen legt vergleichsweise großen Wert auf die Transparenz von Entscheidungsprozessen. Man hätte wie die Gerlinger mit einem reduzierten Gremium tagen können.

Der Gemeinderat ist Herr des Verfahrens. Die Sitzung eines reduzierten Gremiums gehört zu den Möglichkeiten. Aber wer darf dann diskutieren, wer nicht? Solche Einschränkungen des Mandats muss man abwägen. Deshalb war der Ditzinger Gemeinderat geneigt, in einer Sitzungsrunde – über mehr reden wir nicht – Beschlüsse einfacher Art, die zudem vordiskutiert waren, im Umlaufverfahren zu behandeln.

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Nach nur einer Sitzungsrunde kehren Sie zurück zu Präsenzsitzungen?

Zu der Zeit, als wir das Umlaufverfahren planten, war noch strittig, ob Gemeinderatssitzungen nicht vom Versammlungsverbot erfasst sind. Zudem mussten auch die berechtigten Befindlichkeiten der Mandatsträger im Auge behalten werden, wir haben viele, die allein vom Alter zur Risikogruppe gehören. Der Rat ist nun der Auffassung, dass eine Sitzung in einem großen Saal mit entsprechenden Abständen aktuell vertretbar ist.

Sie arbeiten kraft Amtes an einem funktionierenden Gemeinwesen, eines seiner wesentlichen Bestandteile ist das Ehrenamt. Das liegt nun brach.

Das Ehrenamt ist für viele Menschen auch Lebensinhalt. Das ist nun suspendiert unter den Bedingungen einer Pandemie. Daraus erwächst die Frage, wie lange die strengen Verbote auszuhalten sind. Das gärt jetzt spürbar in der Bevölkerung, der Diskussionsprozess muss geführt werden.

Ist das gewachsene Ehrenamt, das Gemeinwesen nicht schon zunichte gemacht?

Das glaube ich nicht. Ich nehme mit großer Genugtuung zu Kenntnis, wie sich auch unter den schwierigen Bedingungen ehrenamtliche Aktivitäten bilden, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, die nicht mehr selbst einkaufen können oder sollen. Das ist ein klares Signal, dass die Menschen den Gemeinsinn überhaupt nicht verloren haben, sondern jetzt in andere Richtungen lenken und versuchen, Solidarität zu zeigen. Ich mache mir keine Sorgen, aber ich glaube es ist wichtig, im Blick zu behalten, dass der Verlust des Gemeinsinns eine Gefahr sein kann.

Von der Stadt ins Land

Oberbürgermeister
Michael Makurath ist seit 1999 im Amt. Bei seiner zweiten Wiederwahl 2015 war er einziger Kandidat in Ditzingen. Der Rathauschef erhielt rund 95 Prozent der Stimmen. Der 60-Jährige ist parteilos, sitzt aber für die SPD im Regionalparlament.

Präsident
Seit 2018 ist Makurath zudem Präsident des Verbands baden-württembergischer Bürgermeister. Zuvor hatte der gebürtige Heilbronner bereits das Amt des Stellvertreters an der Verbandsspitze inne.