Im Juni 2013 noch eine optische Täuschung: Sportholzfäller Robert Ebner bringt den Fernsehturm aus dem Lot – Droht nun tatsächlich die Schräglage? Foto: Sebastian Marko

Diskutieren Sie mit - Bringt Stuttgart 21 den Fernsehturm in eine veritable Schräglage? Für Gegner des Milliardenprojekts ist dies unausweichlich, sollte der Fildertunnel tatsächlich wie geplant direkt unter dem Wahrzeichen der Landeshauptstadt verlaufen.

Stuttgart - Sie nennen sich Fernsehturmfreunde, sind in Teilen verbunden mit den Parkschützern, die seit Jahren gegen den künftigen Tiefbahnhof agieren. Sie sammeln seit Wochen Unterschriften gegen die jetzige Planung (bisher haben sie knapp 2000 Signaturen beisammen), wettern auf Kundgebungen gegen die „unglaubliche Risikobereitschaft werteblinder Technokratenplaner“. Und sie fordern eine Verlegung der Tunneltrasse weg vom Fernsehturm um mindestens 250 Meter nach Osten unter Wald und Sportplätze.

Der 9,5 Kilometer lange Fildertunnel beginnt im Norden am Hauptbahnhof und endet am Portal Filder im Fasanenhof. Was wohl viele Stuttgarter nicht wissen: Er verläuft in 223 Meter Tiefe direkt unter dem Fernsehturm. Und das ist für die Gegner ein Knackpunkt – der angesichts der langen Vorplanung zwar schon seit vielen Jahren feststeht, aber erst in den vergangenen Wochen an die Öffentlichkeit gebracht wurde.

Dort unten befindet sich für die S-21-Kritiker das Problem: Der Fernsehturm steht auf einer dicken Gipskeuperschicht. Wenn dieser unausgelaugte anhydritführende Gipskeuper versehentlich mit Wasser in Berührung komme, quelle dieser um 60 Prozent in seinem Volumen auf. Dies hätte, so der Diplomingenieur Klaus Gebhard von den Parkschützern und Fernsehturmfreunden kürzlich bei der Montagsdemo auf dem Schlossplatz, fatale Folgen. „Da nun der Fernsehturm so lang und schmal ist, wäre bei einer einseitigen Anhebung seines Fundaments nur um wenige Zentimeter infolge einer Gipskeuperquellung schnell Gefahr in Verzug.“ Denn: „Mit jedem Zentimeter, den sich der Boden unter dem Turmfuß heben würde, würde sich dessen Spitze um das gut Achtfache aus dem Lot neigen.“ Bei beispielsweise lediglich 15 Zentimetern tief unten „würde sich die Turmspitze bereits um 1,24 Meter aus der Lotrechten neigen“, prognostiziert Gebhard.

Befürchtet wird „weltweite Blamage“

Die Folgen: Die Schiefstellung des Fernsehturms, verbunden mit möglichen Sturmstärken, würde einen sicheren Aufzugsbetrieb nicht mehr erlauben oder gar zu einer erneuten, dann endgültigen Turmschließung führen. „Von einer rufschädigenden weltweiten Blamage eines selbst demolierten ,Schiefen Turms von Schwaben’ gar nicht zu reden.“

Die Fernsehturmfreunde verweisen auf Erdwärmebohrungen gerade in derartigen geologischen Formationen auch in Baden-Württemberg, die die Siedlungen darüber um Zentimeter oder gar Meter anheben würden. Und dass es sich bei ihren aktuellen Warnungen für den Hohen Bopser in Degerloch keineswegs um „eine Angstfantasie der Fernsehturmfreunde“ handle, wie man ihnen gerne vorwerfe, sei ja am Vorgehen der Bahn erkennbar: Diese lasse die Tunnelbohrmaschine eben nicht in einem Zug bis zum Talkessel in Stuttgart hinabbohren. Stattdessen werde die Maschine seit Erreichen der heiklen Übergangszone in den quellfähigen Gipskeuper wieder umständlich vier Kilometer aus der Röhre zurück zum Fasanenhof gezogen. Die sich dann im Tunnel anschließende 1,15 Kilometer lange Übergangszone ab dem Südrand von Degerloch werde „vorsichtig unter permanenter menschlicher Sichtkontrolle und aus nächster Reaktionsnähe Meter für Meter mit konventionellen Baggern“ ausgebrochen.

Dass nie Grund- oder Bergwasser in den quellfähigen Gipskeuper eindringen dürfe, stehe fest. Denn wer wolle dafür garantieren? „Seriöse Geologen werden dafür ihre Hand nicht ins Feuer legen“, sagt Gebhard.

Überdeckung von mehr als 22 Meter

Ein Experte allerdings widerspricht diesen Thesen. Es ist Bauingenieur Professor Walter Wittke, auf den sich das Bahnprojekt Stuttgart–Ulm in der Zurückweisung der Erklärungen und Forderungen der Fernsehturmfreunde beruft. Der 81-Jährige ist nach Auskunft eines S-21-Sprechers einer der führenden Tunnelbauexperten weltweit und ist für die Deutsche Bahn in Sachen Stuttgart 21 beratend tätig.

Die Röhren des Fildertunnels haben demnach im Bereich des Fernsehturms eine Überdeckung von mehr als 220 Metern. „Die Tunnelröhren liegen hier im unausgelaugten, anhydritführenden Gipskeuper, der trocken ist.“ Wasserführende Schichten hätten einen Abstand von den Firsten der Tunnelröhren von mehreren Tunneldurchmessern. „Wasser kann somit von oben nicht bis zum Tunnel vordringen.“ Wittke verweist auf den Bau der Wendeschleife der S-Bahn unter dem Hasenberg; da habe sich gezeigt, dass der Tunnel auch bei einem wesentlich geringeren Abstand zu den wasserführenden Schichten trocken geblieben sei.

Durch den Entwurf und Bau müsse sichergestellt werden, dass in Tunnellängsrichtung kein Wasser in das quellfähige Gebirge eintreten könne. Hierzu dienen nach Wittkes Angaben Abdichtungsbauwerke, wie sie etwa in der Schlichtung zu Stuttgart 21 vorgestellt worden seien. Klares Fazit Wittkes, der in Deutschland als führender Wissenschaftler in der Felsmechanik gilt: „Die Stuttgarter und die Touristen aus aller Welt können mit Blick auf den Fernsehturm völlig beruhigt sein: Ein Risiko für das Auftreten von Hebungen besteht nicht.“

Schäpser Schaft bereits 2013

Der schiefe Fernsehturm von Degerloch – womöglich ein realistisches Szenario? Zumindest hatten wir ein Foto des schäpsen Schafts bereits im Juni 2013 in unserer Zeitung. Allerdings war’s seinerzeit eine gelungene optische Täuschung. Als Ankündigung für die einige Monate danach anstehende Stihl-Timbersports-Weltmeisterschaft in der Stuttgarter Porsche-Arena hatte Fotograf Sebastian Marko seine Kamera so platziert, dass es schien, als ob der Sportholzfäller Robert Ebner mit seiner Axt den Turm umniete oder zumindest in Schräglage versetze. Kommentar unserer schreibenden Kollegin damals: „Bewahren Sie Ruhe und Contenance: Der Fernsehturm steht noch!“ Und so soll’s ja auch noch Jahrzehnte, besser: Jahrhunderte bleiben.

Hintergrund:

Der Fernsehturm

1956 wird der aus Stahlbeton bestehende Fernsehturm, für den Fritz Leonhard als Ideengeber und Vorantreiber und Erwin Heinle als Architekt verantwortlich zeichnen, eröffnet. Durch den Standort auf dem Hohen Bopser (485,2 Meter über Normalnull) sollte die breite Abdeckung der Funksignale über den Talkessel gewährleistet sein.

216,61 Meter hoch ist der Fernmelde- und Aussichtsturm. Die Aussichtsplattform befindet sich auf etwa 150 Metern, die obere Ebene liegt 2,40 Meter höher.

Rund 900 000 Besucher lassen sich anfangs jährlich durch die beiden Aufzüge nach oben tranportieren. Zuletzt sind es rund 330 000 Besucher jährlich – in der Summe seit Eröffnung also mehr als 25 Millionen Besucher.

Am 27. März 2013 folgt der Paukenschlag: Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) lässt als eine seiner ersten öffentlichkeitswirksamen Amtshandlungen den Fernsehturm für die Öffentlichkeit schließen, weil der Brandschutz nicht ausreicht. Die Sanierung, bei der etwa eine flammhemmende Umkapselung von Kabeln erfolgt, kostet 1,8 Millionen Euro.

Am Samstag, 30. Januar 2016, wird der Fernsehturm nun wieder geöffnet – rechtzeitig zum 60-jährigen Bestehen. Dies wird eine Woche später, am Samstag, 5. Februar, gebührend zelebriert. Das genaue Festprogramm will der Südwestrundfunk demnächst bekannt geben.