Der Bundespräsident versucht, mit Bürgern über eine Impfpflicht zu reden. Eine Impfskeptikerin dominiert die Debatte – und die Mehrheit im Raum ist ziemlich stumm.
Berlin - Wie soll man Gudrun Gessert nennen? Eine Impfskeptikerin? Vermutlich wäre die Lehrerin aus Kirchentellinsfurt bei Tübingen mit dieser Bezeichnung nicht einverstanden. So wie sie mit einer Menge nicht einverstanden ist. Mit Zulassungsentscheidungen der Arzneimittelbehörde, mit offiziellen Statistiken zu Impfnebenwirkungen. Das alles tut sie am Mittwochmorgen kund, minutenlang. Sie hat jede Menge Zuhörer.
Der prominenteste davon ist der Bundespräsident. Gessert sitzt vor ihrem Computer, aber zugleich ist sie gerade auch in einer Runde auf Schloss Bellevue zu Gast. Frank-Walter Steinmeier hat zu einer Diskussion mit ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern eingeladen, Fernsehsender übertragen live. Es soll um die heiß diskutierte Frage gehen, ob Deutschland eine Impfpflicht einführen soll.
Selbst will Steinmeier nicht für oder gegen die Impfpflicht plädieren
Sollte es dazu kommen, müsse man an die Begründung einer solchen außerordentlichen Maßnahme besonders hohe Ansprüche stellen, sagt Steinmeier. Zumal Bund und Länder sehr lange Zeit eine Impfpflicht explizit ausgeschlossen hätten. Selbst will der Bundespräsident nicht für oder gegen die Impfpflicht plädieren. Schließlich ist er das Verfassungsorgan, das ein entsprechendes Gesetz prüfen und mit seiner Unterschrift gültig machen müsste.
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Aber zuhören, das will Steinmeier. Sieben Gäste berichten von ihrer Welt – dazu gehört der Berliner Professor Kai Nagel, der eigentlich Verkehrssysteme plant, aber seit Corona Verlaufsmodelle berechnet. Nagel kann an seiner Analyse der Delta-Welle gut erklären, warum Impfen funktioniert. Die Welle zeige, dass in Sachsen, wo die Impfquote deutlich niedriger gewesen sei als in NRW, die Zahl der Todesfälle zehnmal höher gewesen sei. Bei Omikron sei nun die Frage, ob man mit einem blauen Auge davonkomme.
Expertin erklärt, warum die Debatte so heiß läuft
Als zweite Expertin in der Runde sitzt die Professorin für Gesundheitskommunikation, Cornelia Betsch. Sie erklärt, warum die Debatte ums Impfen so heiß läuft – und warum die Zahl der Gegner auf der Straße wächst: Viele der jetzt noch Ungeimpften seien auf keinen Fall bereit, sich impfen zu lassen. Sie hätten Angst – eine starke Emotion. Wenn der Staat sie zwinge, „kommt ein starkes Gegengefühl“. Da sei „wenig Raum für Pro- und Kontra-Argumente“.
Auch hier kommen manche Argumente nicht an. Unter den Gästen sind Kritiker einer Impfpflicht. Einer davon ist ein Angestellter aus der Nähe von Bamberg, der einen Text abliest, in dem er schreibt, er halte es für „unmoralisch, bei den Erkenntnissen, die wir über die zur Verfügung stehenden Impfstoffe haben, den Menschen eine Impfpflicht beziehungsweise einen Impfzwang durch Verordnung aufzuerlegen“.
Die Argumente prallen ab
Die zweite Kritikerin ist Gudrun Gessert, die sagt, sie sei nicht gegen das Impfen, sondern nur gegen die Pflicht dazu. Sie stellt die Wirksamkeit von Impfstoffen infrage, behauptet, es gebe viele Nebenwirkungen, spricht von mangelndem Vertrauen. Es entwickelt sich ein Schlagabtausch, der sich schnell weit weg vom eigentlichen Debattenthema bewegt und nah in Richtung der Diskussionen, in denen es am Ende um die Frage geht,welche Fakten die richtigen sind. Die beiden Wissenschaftler mühen sich redlich, der Bundespräsident atmet tief.
Und dann ist da noch das Schweigen. Drei andere Menschen sitzen im Raum, eine Krankenschwester, ein Lehrer, die Leiterin eines Altenheims. Alle haben eingangs kurz berichtet, wie wichtig die Impfungen in ihren Einrichtungen seien, wie sie das Leben verbessert haben. Jetzt sind sie still. Immer mehr wird die Debatte zum Sinnbild der aktuellen Lage: eine kleine Gruppe, die ihre Vorbehalte artikuliert, eine Politik, die sich bemüht zuzuhören, Wissenschaft, die versucht, Argumente sachlich zu entkräften, Fakten zu bieten. Ein Abprallen der Argumente. Und eine Mehrheit, die verstummt.
„Wunsch, etwas gemeinsam gegen diese Pandemie zu unternehmen“
Zum Schluss kann noch einmal jede und jeder die Diskussion bilanzieren. Ein Satz von Sigrid Chongo bleibt lange in der Luft hängen. Sie leitet ein Seniorenpflegezentrum. Sie habe bei allen Unterschieden eine Gemeinsamkeit gespürt, sagt sie: „Dass der Wunsch da ist, etwas gemeinsam gegen diese Pandemie zu unternehmen.“