In der Schweiz die Regel, im Land eher selten: Volksabstimmungen wie hier zu S 21 Foto: Piechowski

Bürger wollen nicht nur wählen gehen, sondern ab und zu eine Sache auch direkt entscheiden. Aber gilt das nicht nur für eine bestimmte gebildete Schicht? Schweizer und Deutsche haben sich darüber in Stuttgart ausgetauscht.

Stuttgart - Deutschland redet, die Schweiz handelt. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn Politiker beider Ländern über direkte Demokratie diskutieren. Da wägen die einen sorgenvoll ab, ob manche Plebiszite zu kompliziert seien fürs Volk, ob sie Einzelinteressen fördern und die Parlamente frustrieren – und die anderen legen die staatliche Schlüsselgewalt mit fast schon naiver Leichtigkeit in die Hände der Bürger.

Die Bevölkerung von Schaffhausen zum Beispiel, jenes Kantons, der wie eine Blase nach Baden-Württemberg hineinreicht, stimmt demnächst über den Haushalt 2015 ab – was hierzulande verfassungswidrig wäre. Doch alle großen Ausgaben verlangen ein Referendum, obendrein herrscht Wahlpflicht. Wer dagegen verstößt, muss sechs Franken Buße zahlen wie der Schaffhausener Kultusminister Christian Amsler: „Ich habe gerade eine Abstimmung verpasst.“

Wie viele seiner Landsleute, die bei der Stuttgarter „Demokratiekonferenz“ zu Wort kommen, kann er manche hiesigen Bedenken nicht so recht verstehen – weil er aus einer anderen Tradition stammt. „Der Grundsatz gilt einfach: Die Bevölkerung hat immer recht“, antwortet er etwa auf die Frage, ob Referenden nicht mühsam oder sogar lästig seien. Es bringe doch nichts, mit unerwünschten Ergebnissen zu hadern.

Aber engagieren sich nicht hauptsächlich wohlhabende, gebildete Männer?. lautet eine der Kernfragen. Führt direkte Demokratie also nicht zur sozialen Exklusion? „Diese Frage stellt sich bei uns so nicht“, sagt Dieter Egli, der im Aargauer Parlament die Fraktion der Sozialdemokraten führt. Zum einen seien die sozialen Unterschiede in der Schweiz nicht so groß, außerdem sei Ausgrenzung ja ein gesamtgesellschaftliches Problem, nicht nur ein demokratietheoretisches. Man müsse eben die soziale Ungleichheit bekämpfen.

Vertrauen und Legitimität in einer komplexen Welt

Volksabstimmungen schaffen Vertrauen und Legitimität in einer komplexen Welt“, wirbt auch der Zürcher Politikwissenschaftler Uwe Serdült für das Schweizer Modell. Und nach einem Referendum ist ja immer vor einem Referendum: „Es gibt keine endgültigen Entscheide, Demokratie ist ein ständiges Lernen der Bürger.“

Bei so viel Selbstgewissheit hält es Gisela Erler, baden-württembergische Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, nicht auf dem Stuhl. „Ich hab’ gern, wenn es scheppert“, sagt die Grüne, eigentlich eine glühende Anhängerin der direkten Demokratie – aber nicht im schweizerischen Ausmaß. Sie zweifelt offen an der Überlebensfähigkeit dieses Modells, weil die Eidgenossen den EU-Beitritt ablehnen und so der eigenen Wirtschaft schaden: „Die Schweiz zieht sich zurück auf ihre liebliche Insel, man kann aber nicht alles vor Ort entscheiden.“

Was Flüchtlinge angehe, sei das Land nach dem Ausländer-Referendum sogar ein „Schreckensort“, sagt Erler – was den anwesenden Botschafter Deutschlands in Bern, Otto Lampe, sogleich zu einer Verteidigungsrede veranlasst: Schreckensort? Nein! Immerhin nehme die Schweiz pro Kopf mehr Flüchtlinge auf als Deutschland.

So mancher sieht Grenzen für die direkte Demokratie

Aber auch Städtetagspräsidentin Barbara Bosch sieht Grenzen für die direkte Demokratie. „Stellen Sie sich vor, Sie würden die Frage, wo ein Flüchtlingsheim gebaut wird, nur den Bürgern überlassen – da würde gar nichts gebaut“, wirft die Reutlinger Oberbürgermeisterin ein. Man dürfe auch nicht vergessen, dass die Schweiz ein anderes Demokratiemodell verfolge: eines, das alle Parteien einbindet. Bosch: „Es gibt keine Opposition, das Referendum ist also nötig, um dem Regierungshandeln etwas entgegenzusetzen.“

„Große ethische Grundsatzfragen“ (etwa zur Sterbehilfe) überlässt auch der Berliner Historiker Paul Nolte lieber den Parlamenten. Schon allein deshalb, weil Abstimmungen gegenüber Wahlen einen Nachteil haben: Die Alternative lautet stets Ja oder Nein. Dies verhindere Kompromisse und fördere zumindest in Deutschland eine Politik des Entweder-oder. Dennoch konstatiert Nolte: „Die Bürger sind nicht mehr zufrieden mit dem, was noch ihre Eltern unter Demokratie verstanden.“ Sie wollten ab und an mitentscheiden – vor allem in Sachfragen. Dass dieser Wunsch womöglich nur von der etablierten Mittelschicht gehegt wird, andere Gruppen wie Migranten oder Jugendliche aber kaltlässt, sieht er als weiteren Schwachpunkt.

Doch das sei bei Wahlen auch nicht viel anders, wendet Niklas Im Winkel ein. Der bei der Bertelsmann-Stiftung arbeitende Wissenschaftler verweist auf eine viel beachtete Studie der Stiftung über die Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2013. Auf einen kurzen Nenner gebracht, lautet deren Resultat: Je prekärer die Lebenswelt der Bürger, desto seltener gehen sie zur Wahl. Je gebildeter sie sind, desto mehr beteiligen sie sich. Und provokant lautet die Kernfrage: „Wird Deutschland zu einer Demokratie der besser Verdienenden?“

Für die Schweiz fehlt zwar eine solche Studie, das Nachbarland geht aber mit der auch dort sinkenden Wahl- und Abstimmungsbeteiligung gelassener um. Eine große Gruppe sei entweder zufrieden oder einfach desinteressiert, befindet Maya Bally Frehner, im Parlament des Kantons Aargau Fraktionschefin der Bürgerlich-Demokratischen Partei: „Die haben zu wenig Schmerzen.“ Sie plädiert dafür, schon Kindern das demokratische Handwerk beizubringen – indem man zum Beispiel wie in der Schweiz Kinderparlamente bildet. „Wir brauchen mehr politische Bildung“, sagt auch der Tübinger Wissenschaftler Rolf Frankenberger, der in ausgewählten Kommunen des Landes die „politischen Lebenswelten“ erforscht hat.

Gibt es am Ende auch etwas, das die Gäste mit nach Hause nehmen? Bei den diskursiven Beteiligungsverfahren habe Deutschland der Schweiz etwas voraus, glaubt Peter Grünenfelder, der Staatskanzleichef des Kantons Aargau. Denn so manche Streitfrage lässt sich, bevor man darüber eine Abstimmung organisiert, an einem Runden Tisch bereden und eventuell auch lösen.