2011 entschied sich die Mehrheit bei einer Volksabstimmung gegen den Ausstieg aus Stuttgart 21. Sollten solche Verfahren auch auf Bundesebene möglich sein? Foto: imago stock&people

Eine „bundesweite Volksabstimmung“ auf Open Petition verspricht demokratische Selbstermächtigung. Allerdings sieht ein Stuttgarter Politikwissenschaftler dabei auch Gefahren.

Jörg Mitzlaff blickt voller Sorge auf die Zukunft der Demokratie. Diese Sorge treibt den 54-Jährigen an, wenn er dafür kämpft, das politische System in Deutschland zu verändern. Er sagt: „Das ist der letzte Weg, unsere Demokratie vor autoritären Bestrebungen zu retten.“ Mitzlaffs Kampf ist ein professioneller. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Petitionsplattform openPetition. Die gemeinnützige GmbH hat sich auf die Fahnen geschrieben, Bürgerinnen und Bürgern mehr direkte politische Beteiligung zu ermöglichen.

 

So ließ sich auf ihrer Webseite unter dem Titel „bundesweite Volksabstimmung“ im Oktober über einige der prägenden Themen unserer Zeit votieren; von Waffenlieferungen über die Schuldenbremse und das Klimaschutzgesetz bis hin zu einer Vermögenssteuer für Superreiche. Das Problem: Bundesweite Volksabstimmungen sind in der Verfassung nicht vorgesehen (einzige Ausnahme: eine mögliche Neugliederung der Bundesländer). Weckt open-Petition also falsche Erwartungen, wenn das Portal mit diesem Begriff hantiert?

Zwiespalt bei „bundesweiter Volksabstimmung“

Zwar weist der Infotext zur Abstimmung darauf hin, dass sie Politiker nicht zum Handeln zwingt: „Die Ergebnisse sind rechtlich nicht bindend.“ Allerdings findet sich dieser Satz erst ganz am Ende der Erklärung. Wer nicht so weit liest, ist später womöglich verwirrt, wenn die Stimmabgabe keine sichtbaren Folgen nach sich zieht. „In so einem Fall kann Frustration entstehen“, sagt André Bächtiger, Professor für Demokratieforschung an der Uni Stuttgart. Es drohe sogar die Gefahr, bestehende Formen direkter Demokratie zu schwächen.

Anders als auf Bundesebene ist es in einigen Ländern – darunter Baden-Württemberg – jederzeit möglich, Volksbegehren auf den Weg zu bringen. Inhalt können etwa ein neues Gesetz, eine Verfassungsänderung oder die Auflösung des Landtags sein. Beurteilt das Innenministerium einen Antrag für ein Volksbegehren als zulässig, werden Unterschriften gesammelt. Die Landtagsabgeordneten befassen sich damit, wenn innerhalb von sechs Monaten ein Zehntel der Wahlberechtigten im Land – derzeit rund 770 000 Menschen – das Begehren unterstützt. Entscheidet sich das Parlament gegen den Antrag, kommt es zur Volksabstimmung. Ein aktuelles Beispiel ist das von der FDP gestartete Volksbegehren gegen die drohende Aufblähung des Landtags. Hier lief die Unterschriftensammlung bis diesen Mittwoch.

Der Zwiespalt bei juristisch zahnlosen Formaten wie der von open-Petition durchgeführten „bundesweiten Volksabstimmung“: Einerseits bieten sie den Teilnehmenden eine Chance, ihre Meinung auszudrücken. Wer sich von solchen Abstimmungen jedoch enttäuscht fühlt, verliert womöglich den Glauben an Volks- oder Bürgerbegehren auf Landes- und Kommunalebene. Jörg Mitzlaff verteidigt seine Abstimmungen: „Das ist eine Übung, wie direkte Demokratie auf Bundesebene aussehen kann.“ Die Teilnehmenden lernten dabei, sich mit politischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Er bezeichnet dies als eine Art von Selbstermächtigung und fügt hinzu: „Das ist fast bildungstherapeutisch.“

Open-Petition-Gründer fordert mehr Bürgerbeteiligung

Das Risiko, Menschen zu enttäuschen, nimmt Mitzlaff in Kauf. „Wir glauben, dass der Gewinn größer ist als der Schaden.“

Die Plattform rief im Oktober zum vierten Mal zur „bundesweiten Volksabstimmung“ auf. Bislang nahmen dabei den Angaben zufolge mehr als 300 000 Menschen teil. Das ist zwar nur ein Bruchteil der rund 60 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland. Mitzlaff fordert trotzdem mehr direkte politische Beteiligung aus. „Wir brauchen eine positive Idee, wie wir unsere Demokratie weiterentwickeln können“, sagt er. „Dafür müssen wir den Menschen wieder mehr zutrauen.“

In Baden-Württemberg wurden in den vergangenen Jahren neue Beteiligungsformate geschaffen. Seit Juli können beim Landtag eingebrachte Petitionen online unterstützt werden. Die erste so eingebrachte Petition wird diesen Donnerstag im Landtag öffentlich verhandelt. Das Thema: die Polizeisoftware der US-Firma Palantir.

Die Vor- und Nachteile der direkten Demokratie

André Bächtiger weiß um die Vorteile direktdemokratischer Formen. Er stammt aus der Schweiz, wo Referenden auf allen Ebenen möglich sind. „Wenn man auf Studien zur Demokratiezufriedenheit schaut, dann sticht die Schweiz schon positiv heraus“, sagt der Politikwissenschaftler. In Referenden könnten die Bürger Unzufriedenheit ausdrücken, ohne dafür auf die Straße zu müssen.

In der Schweiz informiert die Abstimmungswerbung über das Thema. Foto: IMAGO/dieBildmanufaktur

Dennoch warnt Bächtiger davor, Volksabstimmungen zu verklären. Nicht immer ließen sich mit ihnen Entscheidungen legitimieren, die alle Gesellschaftsschichten betreffen. „Die Frage ist, wer sich daran überhaupt beteiligt.“ Häufig handle es sich um relativ privilegierte Menschen mit einem hohen Bildungsgrad. Heißt: eine Gruppe, die schon jetzt in der politischen Landschaft überrepräsentiert ist. Problematisch werde es zudem, wenn der Volkswille mit einer Verletzung von Minderheitsrechten einhergehe, fügt Bächtiger hinzu.

Er plädiert deshalb für „hybride Kombinationen“: Außer Referenden hält er auch die Zufallsauswahl für ein interessantes Mittel. Dabei werden per Los Bürgerinnen und Bürger bestimmt, die dann über ein konkretes Thema beraten.

Das sagt das Grundgesetz

Wahlen und Abstimmungen
Das Grundgesetz schreibt auf Bundesebene die Form der repräsentativen Demokratie vor. Die entsprechende Stelle findet sich in Artikel 20. Sie lautet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Neugliederung der Bundesländer
Von einem Volksentscheid ist im Grundgesetz lediglich in Artikel 29 die Rede. Dort geht es um die Neugliederung von Bundesländern. In diesem Fall stimmen die Bewohner der betroffenen Gebiete über die vorgeschlagene Änderung ab. „Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes ergehen durch Bundesgesetz, das der Bestätigung durch Volksentscheid bedarf“, heißt es in der Verfassung.