Der ukrainische Präsident glänzte vor seiner Wahl 2019 in der TV-Serie „Diener des Volkes“. Die kann man nun in der Arte-Mediathek sehen.
Stuttgart - Er brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit, wies der vermutlich auf der Todesliste russischer Spezialtruppen stehende ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Rat zurück, den Kampf gegen Putins Armee vom Ausland aus zu führen. Bei seinen weltöffentlichen Auftritten im bombardierten Kiew wirkt Selenskyj nicht scheppernd pathetisch, sondern ernst und würdig. Trotzdem wird ihm bescheinigt, er spreche, als sei er die Figur eines Hollywoodfilms der Marke David gegen Goliath – mit sauber zurechtgefeilten Dialogen und stilsicheren Regieanweisungen.
Was nun wertschätzend gemeint ist, als Hinweis auf eine beängstigende Rollensicherheit, war ein heftiger Kritikpunkt, als Selenskyj im Frühjahr 2019 die ukrainische Präsidentschaftswahl gewann: Dieser Mann sei ja nur ein Schauspieler. Noch dazu einer, der mit einer TV-Komödie bekannt geworden sei, mit der Politsatire „Diener des Volkes“, die von einem relativen Jedermann erzählt, dem kleinen Geschichtslehrer Wassyl Holoborodko, der sich plötzlich als Präsident im Zentrum der Macht wiederfindet.
Eine anpackende Erfahrung
Der brauenziehende Hinweis auf Selenskyjs bürgerlichen Beruf hatte im besseren Fall den Unterton von „inkompetenter Gaukler“. Die verschärfte Variante legte den Größenwahn eines Massenbezauberers nahe, der Schein und Realität verwechselte und Chaos anrichten würde. Auf der obersten Stufe des Skepsis saß der Zweifel, ob Selenskyj die ins Amt gekaufte Marionette eines im Hintergrund die Fäden ziehenden Oligarchen sei.
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Vielleicht wäre der deutsche Blick auf den Außenseiter in der ukrainischen Politik damals schon ein ganz anderer gewesen, hätte man hierzulande „Diener des Volkes“ schon sehen können. Nun hat Arte die erste Staffel der Politsatire im Original mit Untertiteln in die Mediathek gestellt, 23 Folgen von jeweils rund 23 Minuten Länge. Wer eintaucht ins Leben des permanent überforderten, aber nicht klein zu kriegenden Volkstribunen Holoborodko, der setzt sich einer so bereichernden wie anpackenden Erfahrung aus.
Umgeben vom alten Apparat
Zunächst einmal ist „Diener des Volkes“ eine bissige, einleuchtende Darstellung der innenpolitischen Lage der Ukraine, die nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit von kleptokratischen Eliten, maßloser Korruption und einer so aufgeblähten wie ineffizienten Verwaltung geplagt wurde. Holoborodko wird nach einem Wutausbruch, den einer seiner Schüler heimlich filmt und ins Netz stellt, zum Champion eines unzufriedenen Volkes.
Einmal im Amt, ist der Neuling umringt von den alten Garden und den Fettringen eines Staatsapparats, der allen irgendwie Verbandelten Gefälligkeitsjobs verschafft. „Diener des Volkes“ wird vom Bewusstsein angetrieben, dass solch einem Reformer gar nichts übrig bliebe, als sich mit einem Teil des alten Apparats irgendwie zu arrangieren, also Teile der alten Korruption vorerst hinzunehmen. Zugleich aber muss so ein Veränderungswilliger sich schnellstmöglich mit einem kleinen Kreis ihm Ergebener umgeben: Darin liegt die Saat neuer Korruption.
Man denkt an Bomben und Raketen
„Diener des Volkes“ kann Ernstes sehr lustig darstellen – wenn etwa Holoborodkos Eltern, seine Schwester und seine Nichte dem Rausch verfallen, jetzt zu den Privilegierten zu gehören – also über dem Gesetz zu stehen und bei Einkäufen in der Hoffnung auf Protektion oder aus Angst vor Schikanen überall „100 Prozent Rabatt“ zu bekommen. Aber „Diener des Volkes“ ist in der Schärfe des Blicks für politische Strukturen und Prozesse gleichauf mit Klassikern wie „Yes, Minister“, „The Thick of it“ und „House of Cards“.
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Aber man kann „Diener des Volkes“ eben nicht vergnügt als bloße Satire sehen. Ständig gemahnen die Bilder und Szenen an die aktuelle Wirklichkeit. Im Vorspann radelt Selenskyj als Holoborodko durch ein offen und freundlich wirkendes Kiew, und unser Gehirn rechnet die Marschflugkörper, Bomben und Raketen hinzu. Am ersten Tag bekommt der Präsident auch sein Double vorgestellt, das lästige Termine für ihn wahrnehmen, aber im Extremfall auch für ihn sterben soll. All jene, die Holoborodko entmachten möchte, kommen einem wie jene vor, die von „faschistischer Diktatur“ faseln. Diese verlässliche Clique der Gauner will Putin durch seinen Angriffskrieg wieder an die Fleischtöpfe setzen.
Fiktion und Realität
Wolodymyr Selenskyj kann man sich nun schwerlich als einen vorstellen, mit dem die Eitelkeit durchging. „Diener des Volkes“ wirkt wie ein Planspiel, dessen Erfahrungen er sich dann verpflichtet fühlte: Vor der Kamera hatte er Reform geübt, nun wollte er sie wagen. Aber für die Dreistigkeit, sich ernstlich zum Rechtsstaat zu machen, bestraft Putin die Ukraine nun mit Krieg. In der Serie entscheidet sich der sparsame Holoborodko, er brauche keine Leibwächter. Während man Selenskyj zusieht, wie er das spielt, fragt man sich bang, wie dick nun seine Bunkerwände wohl sein mögen.
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Wolodymyr Selenskyjs TV-Karriere
Tänzchen
Erste größere Bekanntheit erlangte der 1978 geborene Selenskyj 2006 durch seine Teilnahme an der ukrainischen Variante von „Dancing with the Stars“. Da war der frühere Jurastudent bereist als Kabarettist mit der Truppe Kwartal 95 aktiv
Satire
Die Kwartal-95-Mannschaft gründete eine TV-Produktionsgesellschaft, die 2015 die Satire „Diener des Volkes“ beim TV-Sender 1+1 vorlegte. Dessen Chef wurde Hauptsponsor von Selenskyjs Wahlkampf.