Kroatien jubelt: Das Team steht erstmals bei einer WM im Finale. Foto: dpa

20 Jahre nach dem dritten Platz bei der WM in Frankreich fühlt sich das kroatische Team reif für den ersten Titel. Die Trümpfe: Willensstärke, Führungsqualität und Selbstbewusstsein.

Moskau - Niemand wollte nach Hause gehen, die Spieler nicht mal in die Kabine, und als sie es dann irgendwann doch taten, wuselte immer noch ein Quintett in kroatischen Trikots über den Rasen im Luschniki-Stadion. Fünf Kinder im Vorschulalter waren es, denen sich der für seine Gegner so furchteinflößende Domegoj Vida liebevoll angenommen und ihnen schließlich einen Ball besorgt hatte. Fünf kleine Kroaten aus dieser kleinen Nation mit so viel Fußballtalent. An sich sind diese Siegesfeiern mit Kindern ja ein abgenutztes Ritual. Im Luschniki war das auch deshalb anders, weil sie in manchen Momenten so nach ihren Väter kamen, dass es schon fast klischeehaft wirkte. Als Vida noch vor der kroatischen Kurve auf- und abgehüpft war, kam es zu einem ungeplanten Zusammenstoß. Der Kleine, vielleicht vier Jahre alt, stand auf, als wäre nichts gewesen.

Die Kroaten stehen immer auf

Die Kroaten stehen immer auf, das weiß jetzt die ganze Welt. Dänemark, Russland und England – alle sind in Führung gegangen, alle schieden trotzdem aus. England schaffte es nicht mal ins Elfmeterschießen, weil es Mario Mandzukic schon vorher erledigte. Ein Mann, der kaum noch gehen zu können schien und der trotzdem in der 109. Minute den x-ten Sprint in den Strafraum unternahm, weil der Ball ja dort ankommen könnte. Der Ball kam, Mandzukic traf und Verbandspräsident Davor Suker attestierte ihm „Eier wie die der Stiere, die an spanischen Autobahnen als Werbung stehen.“

Genauso könnte man über Ivan Rakitic sprechen, der spätnachts auf die Frage, wie es ihm gehe, verriet: „Ich bin ein bisschen müde. Gut, ein bisschen sehr müde. Letzte Nacht hatte ich ein bisschen Fieber. Gut, ziemlich viel Fieber, fast 39 Grad, ich war den ganzen Tag im Bett“. Oder über Ivan Perisic, der nicht nur wegen seinem Tor zum 1:1, einem Pfostenschuss kurz danach und der Vorlage zum 2:1 seine Auszeichnung zum „Mann des Spiels“ verdiente. Sondern auch, weil er nach dem frühen Rückstand den Ball umgehend auf den Anstoßpunkt trug, und signalisierte: Jetzt fangen wir erst richtig an.

Eine Mannschaft mit vielen Leadern

Diese Mannschaft hat viele Leader, auch das gehört zum Erfolgsgeheimnis. Kapitän Luka Modric (32), Rakitic (30), Perisic (29), Mandzukic (32), Lovren (29), Vida (29) – irgendwer injiziert immer diese balkanische Leidenschaft, die sich dann mit klugem Fußball paart. Als Kroatien seine Autorität im Mittelfeld etablierte, wirkten die Engländer geliefert. „Wir waren überlegen in allen Facetten“, jubelte Trainer Zlatko Dalic – und gab seine Pressekonferenz im Kroatien-Trikot. Dalic berichtete, selbst angeschlagene Spieler hätten die Auswechslung verweigert: „Diesen Charakter bewundere ich.“

Etwas, das die Engländer vergaßen. „Sie dachten ja, sie stehen schon im Finale“, sagte Rakitic in Anspielung auf Berichte aus dem englischen Teamquartier, man werde die Müdigkeit der Kroaten ausnutzen: „Sollen sie ruhig so weitermachen.“ Den Triumphalismus bei englischen Medien und TV-Experten habe man als Motivationshilfe genutzt, bestätigte Modric. „Sie haben uns unterschätzt, ein großer Fehler. Wir haben das alles gelesen und uns gesagt: ‚Okay, schauen wir mal, wer müde sein wird.’“

„Wir hatten Löwenherzen“

Müde? Jemand wie Mandzukic, bei dem jede Pore dieses Lebensgefühl ausstrahlt, es permanent mit der ganzen Welt aufzunehmen? Mit demselben starren Blick wie in seinen endlosen Zweikämpfen guckte er später an den wenigen Reportern vorbei, denen er ein Statement gewährte. Harte Schale, süße Gefühle: „Es ist unglaublich, wir hatten Löwenherzen. Ich glaube, wir sind uns noch nicht bewusst, was gerade geschehen ist.“

Kroatien steht in seinem ersten Endspiel, der Glanz der für immer als unerreichbar geltenden Halbfinalisten von 1998 (1:2 gegen Frankreich) wird überstrahlt. Auch die Größen von einst, wie der Ex-Stuttgarter Zvonimir Soldo, Zvonimir Boban, Robert Prosinecki oder Suker sind begeistert. „Glücklich, müde, bewegt, tot, lebendig – ich habe keine Worte“, sagte der damalige Torschützenkönig Suker. „In früheren Turnieren hat immer etwas gefehlt“, analysierte Modric, „aber diesmal kommt alles zusammen: Qualität, Charakter, das bisschen Glück, das man braucht.“ Ob das alles auch gegen Frankreich reicht? „Wir werden wieder Herz und Seele lassen“, so Modric. „Auf den Platz werden elf Krieger gehen.“

Der Jubel von Perisic junior

Im Luschniki blieben die fünf Kinder. Aus den Lautsprechern kam Popmusik, die trotzdem dankbaren englischen Fans sangen mit („Don’t look back in anger“ – „schau’ nicht im Zorn zurück“), die kroatischen bejubelten die Tore des Nachwuchses. Eine harmonische Szenerie, der Charme des Fußballs in einem Bild. Doch weil man immer ins Bett muss, wenn es am schönsten ist, kam Perisic auf den Platz, um seinen Sohn abzuholen. Der rutschte ihm mit einem Torjubel entgegen, als hätte er gerade das WM-Finale entschieden. Wer weiß, ob ihn der Vater am Sonntag nachmacht.