Madame Odessa, die im Almhüttendorf des Frühlingsfestes Karten legt, stammt aus der berühmten Artistenfamilie Traber Foto: 7aktuell.de/Oskar Eyb

Seit Bürgermeister Michael Föll beim Fassanstich des Stuttgarter Frühlingsfestes bekundet hat, Prophezeiungen einer Wahrsagerin eingeholt zu haben, höhnen Spötter: Rathaus-Politik werde beim Kartenlegen entschieden. Unser Kolumnist Uwe Bogen hat die „Hexe vom Wasen“ besucht.

Stuttgart - Dass es der Erste Bürgermeister war, der sie gleich zu Beginn des 79. Frühlingsfestes in ihrem Holzwagen im Almhüttendorf des Cannstatter Wasens besucht hat, wusste sie gar nicht. „Es kommen so viele“, sagt die Wahrsagerin Odessa, „in Stuttgart mehr Männer als in anderen Städten.“

Aber die Nachfahrin der legendären Artistenfamilie Traber erinnert sich daran, dass sie einem freundlichen Herrn den Aufstieg des VfB Stuttgart sowie ein besseres Wetter prophezeit hat, das Wirte und Schausteller so dringend brauchen. Genau mit diesen konstruktiven Good-News hat Wasenbürgermeister Michael Föll vor dem Anstechen des Fasses im Grandl-Zelt sein Publikum erfreut.

Da keiner annehmen kann, dass ein Bürgermeister die Unwahrheit sagt und da es nur eine Wahrsagerin auf dem Frühlingsfest gibt, muss er bei Madame Odessa gesessen haben – genau dort, wo wir nun sitzen, ein Fotograf und ein Schreiber dieser Zeitung.

Wer zu der Kartenlegerin und Lebensberaterin will, muss einen Vorhang aus verschlungenen Fäden durchstoßen, der im Türrahmen ihrer Bude hängt. Im Inneren strahlt uns eine Mittfünfzigerin an, die auffälligen Ohrenschmuck trägt sowie einen dicken Ring. Ihr Mund ist knallrot geschminkt. „Handlesen 15 Euro“ steht handgeschrieben und umrahmt an der Wand, an der auch Bilder von Engeln zu sehen sind. Die Strasssteine des zweiarmigen Kerzenständers mit LED-Leuchten funkeln. Karten und Münzen liegen herum.

Ihr Holzwagen steht im Almhüttendorf

„Zu mir kommen viele Politiker“, sagt die Madame aus Klein-Wehrhagen, die das Jahr über mit Schaustellern bundesweit unterwegs ist und sich „Hexe vom Wasen“ nennt. Im Almhüttendorf, das alpenländisches Ambiente am Neckar bietet, blickt sie weit über die Berge hinaus – bis in die Zukunft. Bisher hielt ich Kartenlegerinnen für Seelenverkäufer, die mit Prognosen wie „Sie sind gut in Ihrem Beruf, aber noch nicht dort, wo Sie hingehören“ ihre Treffer landen. Meine Skepsis war bis vor kurzem groß. Wenn aber ein hochrangier Stadtchef hier Rat sucht, muss ein investigativer Journalist durch den Fadenvorhang schreiten.

Als Optimist steht fest, dass ich, sollte es für mich nun dicke bei Odessa kommen, umgehend an eine weitere Zukunft nach einer schlecht prohezeiten Zukunft glaube.

„Die Zukunft war früher auch besser“, hat Karl Valentin gesagt. Doch Schluss damit! Man sollte nicht an einen deutschen Komiker denken, wenn man vor einer Wahrsagerin sitzt. Denn das hieße, sie nicht ernst zu nehmen. Und sehr viele nehmen sie ernst.

Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch kommen zu ihr

Heutzutage haben es die Menschen immer eiliger. Sie können nicht auf die Zukunft warten, um zu wissen, was passieren wird. Sie brauchen die Infos schon jetzt. Das Geschäft der Kartenleger brummt deshalb.

Odessas Kunden kommen, wenn eine wichtige Entscheidung ansteht, im Beruf oder privat, dann sollen die Karten sagen, was zu tun ist. Oft seien Frauen bei ihr, deren Kinderwunsch sich nicht erfüllt. Wenn die Karten sagen, dass in Kürze der Storch vorbeischaut, seien sie happy und würden am liebsten gleich zum Akt der Zeugung schreiten. Dann kann es sein, so erzählt die Wahrsagerin, dass die Kundin ein Jahr später zurückkehrt, um sich bei ihr zu bedanken – mit einem schreienden Baby auf dem Arm.

Die Themen Liebe und Gesundheit nehmen viel Raum ein, sagt sie. Und offensichtlich auch Stadtpolitik, Wetteraussichten und das Fußballgeschehen, wie wir dank der Rede des Fassanstechers Föll wissen. Zur Sicherheit fragen wir diese drei Themen noch einmal ab. Hat der CDU-Mann alles richtig mitbekommen? Ja, der VfB steigt bald auf, prophezeit Odessa. Ja, das Frühlingsfestwetter wird noch super! Aber was die Wahrsagerin zu Stuttgart 21 sagt, hat uns der gerissene Wasenbürgermeister – mit Absicht? – vorenthalten. Bis 2021 sei das Großprojekt auf keinen Fall fertig, sagt sie, „das dauert noch sehr, sehr lang“.

„Sie sind ein Genussmensch“

Erst musste das große Ganze geklärt werden, ehe es zu Einzelschicksalen unseres kleinen Lebens geht. Oskar, der Fotograf, und ich ziehen Karten. Den Kollegen beschreibt Madame Odessa als „Kopfmensch“, der stark wie ein Fels ist, aber Widerstände überwinden muss. Mich sieht sie als „Genussmensch“, der viel erreicht hat. Ich würde auch Menschen schmeicheln, die was über mich schreiben wollen.

Ganz egal, ob Herr Föll wirklich bei der Kartenlegerin war oder nicht – er hat seine Sache beim Fassanstich gut gemacht. Manche sagten, sein Chef Fritz Kuhn, hätte das nicht so witzig hinbekommen. Vom Wahrsagen kann man leben, wie Madame Odessa zeigt. Doch wie weit kommt ein Politiker, der die Wahrheit sagt über Stuttgart 21?