In jedem Kind schlummern Schätze. Doch sie müssen erst entdeckt und dann gefördert werden. Foto: /Zoonar//Maksym Yemelyanov

Ulrike Göhler aus Weinstadt hilft Kindern, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken – mit der Videokamera und mit Kommunikationskarten. Und ohne defizitorientierten Blick.

Das ist die Geschichte vom kleinen Tom, der jeden Morgen seinen Kindergarten mit finsterem Blick betrat. Der Fünfjährige wollte nur allein mit einer Erzieherin spielen. Es sei nicht möglich gewesen, andere Buben oder Mädchen mit in das Spiel einzubeziehen, erzählt Ulrike Göhler. Die 55-jährige Pädagogin arbeitet in dem Kindergarten in Weinstadt (Rems-Murr-Kreis), den Tom besucht.

 

Sie hat vor ein paar Wochen eine Ausbildung zum Coach für das sogenannte Video Home Training (VHT) erfolgreich beendet: In ihrer Abschlussarbeit hat Ulrike Göhler das in den Niederlanden entwickelte VHT auf die Arbeit speziell in Kindergärten zugeschnitten. Ihre Ausbilder waren begeistert und haben daraufhin die Pädagogin motiviert, ihre Methode in einem kleinen Buch zu veröffentlichen, Titel: „Komm, wir finden deine Schätze!“

Nicht nach den Defiziten fahnden

Göhler weiß: Jedes Kind hat Fähigkeiten, sie spricht von „Schätzen“ und sagt, das Finden dieser Schätze gelinge mit Hilfe einer Videokamera und sogenannten Kommunikationskarten bei jedem Kind – und oft ganz schnell. Sie hat vor bald 40 Jahren ihre Ausbildung zur Erzieherin gemacht und sagt: Bei Kindergartenkindern sei „das Verstärken von gelungenem Kommunikationsverhalten wirksamer für den Lernprozess als das Analysieren von problematischem Verhalten“. Kurz gesprochen: Erzieherinnen und Erziehen, Mütter und Väter sollten immer versuchen, die Fähigkeiten ihrer Kinder zu finden und nicht nach Defiziten fahnden.

Toms Stärken, sagt die Erzieherin, lägen im kognitiven Bereich, „er hat ganz genaue Vorstellungen davon, wie ein Spiel abzulaufen hat“. Kinder, die anders spielen, wurden von Tom früher ausgelacht. Regelmäßig habe er gesagt: „Ich bin der Beste.“ Freundschaften konnte er so keine schließen – obwohl das sein großer Wunsch war. Tom erlebte immer wieder Ablehnung. Ein Teufelskreis.

Kommunikationskarte: Blickkontakt Foto: Martin Tschepe

Dann kamen Ulrike Göhlers Karten und die Kamera ins Spiel. Die Weinstädter Erzieherin und Mutter von drei längst erwachsenen Kindern erklärt, „fast alle Kinder wollen gefilmt werden“. Auch Tom wollte das. Er musste allerdings akzeptieren, dass er zumindest vor der Linse auch mal mit einem anderen Kind spielt. Er war einverstanden.

Seine Wahl fiel auf Kirstin, „eine gute Wahl“, sagt Ulrike Göhler, denn Kirstin verfüge über hohe soziale Kompetenzen, sie sei ein ruhiges Kind. Also filmte Ulrike Göhler die beiden beim Puzzeln, fast eine Dreiviertelstunde lang. Beim Schneiden des Filmmaterials sei es für sie als „Schatzfinderin“ harte Detektivarbeit gewesen, ein paar Standbilder und kurze Filmsequenzen zu entdecken, die gemeinsames Arbeiten von Tom mit Kirstin zeigen.

Sie entdeckte aber Blickkontakte zwischen Tom und Kirstin sowie Szenen, in denen die beiden Kinder miteinander sprechen. Tom hat diese Fähigkeiten später beim Anschauen der Bilder und Szenen auch selbst gesehen.

Seine Aufgabe war es fortan, mehrere Kommunikationskarten auszuwählen – zum Beispiel die mit den zwei Kindern, die sich anschauen: das Symbol für „Blickkontakt“. Für jeden weiteren entdeckten Schatz, also für jede Fähigkeit, durfte Tom sich einen neuen kleinen Glasstein aus einer Schatztruhe nehme und diesen auf die entsprechende Karte legen. Tom, erzählt die Video-Erzieherin und strahlt, sei ganz begeistert bei der Sache gewesen. Sein Verhalten in der Gruppe habe sich so grundlegend gewandelt.

Pädagogin Ulrike Göhler Foto: Martin Tschepe

Die engagierte Pädagogin hat auch Entwicklungsgespräche mit Eltern, Kindern und dem Filmmaterial gestaltet und dabei ebenfalls „sehr positive Erfahrungen“ gemacht. Denn Bilder, weiß Ulrike Göhler, „sagen mehr als 1000 Worte“. Sie rät anderen Erzieherinnen, solche Entwicklungsgespräche zusammen mit den Kindern zu gestalten, weil Kinder stolz seien, wenn sie „ihren Eltern positive Bilder zeigen und mit ihnen die Schätze finden“.

„Mäuschen“ spielen im Kindergarten

Wichtig sei es allerdings, ausnahmslos positive Filmsequenzen vorzuführen und zumindest in Gegenwart der Kinder „nur positive Dinge anzusprechen“. Beim Schauen der Videofilme seien die Eltern oft glücklich, weil sie einmal „Mäuschen im Kindergarten spielen dürfen“. Mütter und Väter entwickelten dadurch einen „positiven Blick“ auf das eigene Kind.

Ulrike Göhler erzählt in ihrem Buch, das in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für videobasierte Beratung erschienen ist, von ein paar Kindern, deren Daten sie anonymisiert hat. Zum Beispiel von einem fünfjährigen Mädchen aus Syrien, das schüchtern und oft ernst war. Sie zog sich immer wieder unvermittelt aus der Gruppe zurück.

Mit Hilfe des VHT habe sie sich bald zu einem Kind entwickelt, das sich am Morgen mit einem strahlenden Lächeln von der Mutter verabschiedet und fröhlich den Gruppenraum betritt. Eine Kollegin, die nur gelegentlich als Springerin in dem Kindergarten in Weinstadt aushilft, hat gesagt: „Wow, sie ist jetzt voll angekommen in der Gruppe.“

Viele Pädagogen und Eltern sähen bei „herausfordernden Kindern nur die Probleme“, sagt Ulrike Göhler, bei Kindern also, die oft stören oder schlagen, die nicht mitmachen wollen oder bockig sind. Erwachsene müssten sich aber immer diese eine Frage stellen: Warum verhält sich das Kind so? Es gelte, diese Signale zu „entschlüsseln“.

Lichtblicke erkennen und feiern

Erzieherinnen, die mit einer Videokamera arbeiten, zeigten dem Kind, dass es gesehen wird. Alle Buben und Mädchen, sagt die Expertin, „freuen sich über diese Aufmerksamkeit“. Und später, beim Betrachten der Videos, erkennen die Kinder dann: Hey, ich kann ja ganz vieles, zum Beispiel singen, zuhören, Blickkontakt halten, Stopp sagen, mit anderen spielen – was auch immer.

Ulrike Göhler hat im Rahmen ihrer Ausbildung auch eine leuchtend gelbe Glühbirne gebastelt. Diese Birne kommt während des gemeinsamen Anschauens des Films zum Einsatz, fast immer erkennen die Kinder dann bei sich selbst ungeahnte Fertigkeiten – Stichwort: Lichtblicke. Nur kurze Zeit nach dem ersten Videodreh mit Ute Göhler und deren Kommunikationskarten hat Tom beim Betrachten dieser Glühbirne grinsend erklärt: „Ich kann alles.“

Info

VHT
Video Home Training ist eine Methode der Sozialpädagogik, bei der Szenen aus dem Alltag von Menschen aufgezeichnet werden. Anschließend werden in ersten Linie die gut gelungenen Interaktionen der Klienten analysiert und von allen Beteiligten besprochen.

Verlag
„Komm, wir finden deine Schätze!“ Kindergartenkinder entdecken ihre Ressourcen und finden Basiskommunikationsschätze“ ist bei Grin erschienen. Der Münchener Verlag veröffentlicht Hausarbeiten, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten und andere akademische Texte. Das kleine Buch mit 16 sogenannten Basis-Kommunikationskarten kostet 14,99 Euro.