Fünf Jahre nach dem Maidan-Aufstand betrauern viele Ukrainer die damals Gestorbenen. Von der Entwicklung des Landes sind die meisten zutiefst enttäuscht. Foto: AFP

Vor fünf Jahren erhoben sich die Ukrainer gegen Oligarchie und Korruption. Doch der Schwung der Maidan-Revolte ist einer großen Ernüchterung gewichen. Mit ihr verliert auch Präsident Poroschenko an Rückhalt. Doch der treibt ohnehin sein eigenes Spiel.

Charkiw - Panik war die erste Reaktion. Angst – dass die Renten nicht mehr ausbezahlt werden, dass in den Geschäften Lebensmittel fehlen, dass Väter und Söhne an die Front ziehen müssten.

 

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenkohatte nach dem Zwischenfall nahe der Krim, wo die russische Küstenwache am vergangenen Wochenende drei ukrainische Schiffe samt Besatzung festsetzte, das Kriegsrecht ausgerufen. Und bei Jewgeni Sacharow klingelte ständig das Telefon. Der Direktor der Menschenrechtsgruppe Charkiw redete mit der ihm eigenen sonoren Stimme auf die besorgten Senioren ein, beruhigte, erklärte. „Die Menschen sind angespannt, aber von den Folgen des Kriegsrechts merkt man im Alltag bislang nichts“, sagt der Menschenrechtler.

Charkiw ist eine von zehn Regionen, die vom 30-tägigen Kriegsrecht betroffen sind. Der Schritt versetzt das Land in Alarmbereitschaft. Soldaten können in den Gebieten an der Grenze zu Russland und des nicht anerkannten Staates Transnistrien in der Republik Moldau zwangsweise einquartiert, Fahrzeuge, Unternehmen und Wohnraum beschlagnahmt werden. Die Polizeiaufgaben gehen an das Militär über, das erweiterte Rechte bekommt und so auch Ausgangssperren verhängen kann.

Poroschenko will den Westen mit einbinden – der zögert

Vor vier Jahren hatte der russisch-ukrainische Konflikt mit der Besetzung der Krim begonnen. Die Professionalisierung und bessere Ausrüstung seiner Soldaten habe Poroschenko dazu bewogen, gerade jetzt vom Kriegsrecht Gebrauch zu machen, nicht bereits nach der Annexion der Krim oder während der Kämpfe in der Ostukraine, sagen Beobachter im Land. Poroschenko glaubt eine starke Unterstützung durch die USA und die EU hinter sich. „Die Reaktion des Westens aber war eher zurückhaltend, weil der Aktion etwas Künstliches anhaftet“, sagt Jewgeni Sacharow. Schließlich hätte die ukrainische Regierung die Eskalation umgehen können.

Für Serhij Leschtschenko sind Poroschenkos Motive ohnehin leicht zu durchschauen. „Die Ausrufung des Kriegsrechts diente lediglich einem Ziel: die Präsidentenwahl im März zu verschieben.“ Leschtschenko, einst ein investigativer Journalist, jetzt Abgeordneter im Parlament, ist einer der größter Kritiker des ukrainischen Präsidenten. „Poroschenko ist ein großer Erhalter des Status quo. Er ist ein Janukowitsch mit besserem Englisch“, so Leschtschenko mit Blick auf den gestürzten ukrainischen Machthaber. „Poroschenko benutzt dieselben Rezepte zur Manipulation wie Russlands Präsident Putin. Nur: Er ist nicht so geschickt.“

Die Freunde kamen in Särgen zurück

Die Wut auf Poroschenko wird in der Ukraine, fünf Jahre nach der Maidan-Revolution, nur noch von der allgemeinen Desillusionierung übertroffen. Einige Ukrainer wollen dennoch nicht aufgeben. Natalja Pipa streicht sich die blonde Strähne aus dem Gesicht und sagt: „Wir müssen die Politik von unten verändern.“ Sie war 30, als sich im November 2013 einige Hundert Studenten auf dem Maidan versammelten, dem Unabhängigkeitsplatz mitten in Kiew. Aus den friedlichen Protesten waren acht Wochen später Straßenschlachten geworden, schließlich fielen Schüsse. Natalja Pipa stand nicht auf dem Maidan, der Maidan war zu ihr gekommen. In Form von Särgen, in denen Freunde lagen. Sie kamen hierher nach Lemberg, Lwow oder Lwiw – die Stadt tief im Westen der Ukraine trägt viele Namen. In jedem Pflasterstein spiegelt sich die Geschichte der Hauptstadt des untergegangenen Königreichs Galizien, dieses schmutzig-schönen Klein-Wiens. Eine gebrechliche Straßenbahn ruckelt in den Südosten der Stadt, nach Sychiw, wo Natalja Pipa wohnt. Mehr als 120 000 Menschen leben in den mehrgeschossigen Häusern, die in den 1980er Jahren hochgezogen worden waren.

Auch Lwiw wurde damals von der Dynamik des Maidan erfasst. Genauso wie Kiew, Charkiw, Odessa, Schitomir. Ein Land kämpfte dafür, das alte System von persönlichen Seilschaften hinter sich zu lassen, um eine funktionierende demokratische Ordnung herzustellen.

Natalja Pipa gründete eine Organisation namens Kraschtschy Sychiw (Schönes Sychiw). Die Mitglieder wollen als Bürger bei der Gestaltung des öffentlichen Raums mitreden. Nichts Spektakuläres eigentlich – und doch so besonders. „Seit dem Maidan reicht es nicht mehr, eine desinteressierte Haltung zu vertreten“, sagt Pipa. Die Menschen lernten langsam, einander zu vertrauen. Fährt man dieser Tage durchs Land, trifft man auf Gesichter, die vor Optimismus sprühen, die überschwänglich von ihren selbst entwickelten Projekten erzählen. Die erzählen, wie sie dem dubiosen Finanzgebaren von Politikern nachgehen, die erklären, wie sehr sich die Ukraine von einem zentralistischen Machtapparat zu dezentralen kleinen Verwaltungseinheiten verändert. „Als Bürger können wir etwas beeinflussen – und schon das Wissen darum ändert das Bewusstsein“, sagen viele Ukrainer.

Julia Timoschenko vor dem Comeback

Gleichzeitig macht sich eine bleierne Müdigkeit breit. Eine große Enttäuschung, ja auch Aggression. Das alte System der Oligarchie beherrscht weiter die Politik. Die Akzente hätten sich verschoben, die Strukturen seien die alten, heißt es. Der Antikorruptionskampf wird von der Politik gebremst, Bildungs- und Gesundheitsreform kommen nicht voran. Aktivisten wie Journalisten sind Angriffen ausgesetzt, manche verlieren bei ihrem Einsatz für eine demokratische Ukraine das Leben, die Aufklärung der Fälle wird verschleppt. Die Gaspreise haben sich verachtfacht, in mehreren Stadtteilen von Charkiw gibt es selbst Ende November bei bitterer Kälte noch keine warme Heizung.

Im März sollen die Ukrainer ihren Präsidenten wählen. Julia Timoschenko, die Widersacherin von Präsident Petro Poroschenko, weiß die Sorgen der Menschen aufzunehmen. Die einstige „Gasprinzessin“ und frühere Ministerpräsidentin verspricht den Menschen niedrige Gaspreise und gewinnt offenbar Sympathien – jedenfalls liegt sie bei den Umfragewerten vorne.

Poroschenko dagegen ist unbeliebt. „Wir sehen kleine Schritte, aber keinen großen Wurf, auch keine Strategie für die Krim und die Ostukraine“, sagt Julia Mostowa, die Chefredakteurin der Wochenzeitung „Dserkalo Tyschnja“ in ihrem Büro in Kiew. Zigarette rauchend erklärt sie die „ukrainische Mentalität“: Über Jahrhunderte war man von fremden Mächten beherrscht, man lernte, lediglich auf den engsten Kreis aus Familie und Freunden zu vertrauen. Das wirke sich bis heute aus. Geprägt werde die Politik von wirtschaftlich erfolgreichen Emporkömmlingen.

Und was ist mit jenen Jungpolitikern, die damals von den Maidan-Straßenschlachten direkt ins Parlament einzogen? „Tolle Leute. Aber sie schaffen es nicht, sich zu vereinigen“, bilanziert Mostowa. Auch die Zivilgesellschaft sei fragmentiert. Das wissen selbst diejenigen, die sich jeden Tag für eine bessere Gesellschaft einsetzen, für wenig Geld, mit viel Enthusiasmus. Sie kämpfen für die Alten, Kranken, Kinder. Oft gegen die Korruption und manchmal, wie Natalja Pipa, auch einfach nur für ein paar Holzbänke in einem Vorstadtpark.