Als kleiner Basarhändler wie sein Vater Neset (Yücel Erten, li.) kann und will Hakan (Cagatay Ulusoy) nicht mehr leben. Foto: Netflix

Ein unsterblicher Bösewicht und dessen unverwundbarer Widersacher kämpfen in „The Protector“ um Istanbul. Die erste türkische Netflix-Serie wird trotzdem kein Spaß für Erdogan.

Stuttgart - Istanbul ist in Gefahr – und damit, so behauptet „The Protector“, auch die ganze Welt. In der ersten in der Türkei entstandenen Netflix-Serie wird auch früh daran erinnert, dass Napoleon Bonaparte der Stadt am Bosporus das große Kompliment gemacht hat, sie sei, stelle man sich die ganze Welt als ein Land vor, dessen Hauptstadt. Die Gefahr für Istanbul geht von einem Unsterblichen aus, dem letzten einer Gruppe finsterer Gestalten, die seit Jahrhunderten versuchen, mit Kriegen, Seuchen und Intrigen das ehemalige Konstantinopel zu vernichten.

Das klingt nach einer Serie aus der Giftküche von Erdogans Propagandastab: nationaler Größenwahn, Auserwähltheitsfimmel, Verfolgungswahn, Selbstmitleid und Verschwörungstheorien flott aufgequirlt zu einer modernen Mystery-Serie. Aber mit erstaunlicher Lässigkeit vermeidet „The Protector“ das Tappen in die Propagandafalle. Auch wenn eine uralte Geheimgesellschaft gegen die Unsichtbaren kämpft, auch wenn die einen ihrer Knotenpunkte in einer ehemaligen Zisterne unter einer alten Apotheke hat, hier tritt keine glorreiche alte Zeit gegen eine marode Moderne an, um ein verweichlichtes Istanbul vor weiterer Verwestlichung zu warnen.

Kampf um Freiräume

Ganz im Gegenteil, augenfällig ist, wie pragmatisch sich alle in einer modernen Stadt bewegen, in der Gute wie Böse, die Wirtschaftsbosse an der Oberfläche der Gesellschaft und die Geheimgesellschaften im Untergrund, Freiräume nutzen. Der Kampf wird einer um diese Freiräume, nicht gegen sie. Ein starker Staat, eine herrschende Ideologie, eine geschlossene Volksgemeinschaft oder positiv gezeichnete Wortführer einer Rückbesinnung auf alte Werte treten nicht ins Bild.

Selbst der Held Hakan (Cagatay Ulusoy) – fantasy-üblich ein bislang glückloser Bursche ohne große Aussichten, der sich zum Retter der Welt auserkoren findet – wird unter der Last von Macht und Prophezeiung nicht konservativ. Hakan wird der „Beschützer“, der aktuelle Träger eines magischen Hemdes, das unverwundbar macht. Seinen Sinn richtet das nie auf die Kraftquellen islamischer Gelehrter: Er agiert pragmatisch im Hier und Jetzt.

Hoffnungen der Jungen

„The Protector“ erzählt an der Propaganda der Erdogan-Fraktion vorbei von den Aufstiegshoffnungen vieler junger Türken, die wie der mehrfach mit Existenzgründungsversuchen gescheiterte Hakan nicht Tritt fassen können und sich fragen, ob die Welt sie braucht. Hier gibt es darauf eine märchenhaft übersteigerte Antwort, die ihre Macho-Komponente hat. Bald konkurrieren gleich zwei emanzipierte Frauen um die Gunst von Hakan. Größtes Manko der Serie, die charmant die Grenzen ihres Budgets überspielt: Der Plot tritt auf der Stelle, die Figuren werden nicht vertieft. Aus den 10 Folgen ließe sich ein flotter Dreiteiler schneiden.

Verfügbarkeit: Netflix, alle 10 Folgen der ersten Staffel sind bereits abrufbar.