Marco Büchel und Didier Cuche über die gefährlichste Abfahrtsstrecke der Welt: Die Streif in Kitzbühel.
Kitzbühel - Ein außergewöhnliches Gespräch zwischen zwei herausragenden Ski-Rennläufern über eine spektakuläre Abfahrt. Am Samstag (11.23 Uhr, ARD) bittet die Streif wieder zum Tanz
Marco Büchel: In dieser Saison erwarten uns keine Weltmeisterschaften, keine Olympischen Spiele . . . dein Höhepunkt der Saison dürfte die Streif in Kitzbühel sein?
Didier Cuche: Mhm. Ja, ich glaube schon.
Büchel: Erkläre uns diese Faszination von Kitzbühel aus der Sicht eines Läufers.
Cuche: Da gibt es viele Dinge. Nur ein kleines Beispiel: Ist dir aufgefallen, dass es in keinem anderen Starthaus so still ist? In Kitz macht niemand Spaß am Start, es ist auch ganz wenig Funkverkehr. Alle Betreuer sind extrem ruhig und achten nur darauf, dass sie niemandem im Weg stehen. Die Atmosphäre ist anders. Der Druck ist größer. Du fühlst dich wie ins Eck gedrängt. Du weißt: Du musst jetzt über dich hinauswachsen.
Büchel: Mehr als bei jeder anderen Abfahrt?
Cuche: Glaube ich schon. Man sucht bei jeder Abfahrt der Saison sein Limit, bei jeder Kurve, bei jedem Sprung. Aber die Spannung am Start ist nirgends so wie in Kitzbühel. Du weißt, dass du ein sehr hohes Risiko eingehst, dass du dir keinen Fehler erlauben darfst. Klar, es gibt den Mittelteil, der eher eine normale Abfahrt ist, aber du hast 35 Sekunden oben und 35 Sekunden unten, die sind extrem. Der Grat ist hier noch schmaler als überall anders.
Büchel: Du hast drei der letzten vier Speed-Rennen in Kitzbühel gewonnen, davon die letzten beiden Abfahrten. Was machst du besser als die anderen?
Cuche: Ich glaube, dass mich dieser Druck besser macht. Je mehr Druck sich um mich aufbaut, desto mehr kann ich abrufen, was ich in mir habe. Ich bin auf der Streif noch aufmerksamer bei der Besichtigung, noch präziser im Kopf, wenn ich mir die Fahrt vorstelle vor dem Lauf.
Büchel: Diese extreme Stimmung im Ort – lenkt die einen Fahrer nicht ab?
Cuche: Im Gegenteil. Man muss sie genießen. Einer, der sich nur im Zimmer einsperrt und nicht die verrückte Luft von Kitzbühel schnuppert, der ist hier falsch. Das Crescendo vom Training, dass es während der Woche immer mehr Leute werden, dann der Wahnsinn am Wochenende im Dorf und im Ziel, das muss man wahrnehmen und mitnehmen.
Büchel: Bereitest du dich speziell auf Kitz vor? Gehst du etwa im Sommer zur Strecke, wie das manche Läufer machen?
Cuche: Im Sommer war ich nur bei der Gondel-Einweihung (Anm. d. Red.: die Gondeln der Hahnenkammbahn werden nach Kitzbühel-Siegern benannt. Auch Büchel ist Gondel-Namensgeber) in Kitzbühel, wo wir uns ohnehin getroffen haben. Nach der Karriere werde ich im Sommer mal nach Kitzbühel gehen, die neun Löcher im Zielgelände golfen. Aber jetzt nicht. Ich bin keiner, der sich speziell auf ein Rennen vorbereitet. Ich glaube nicht, dass man irgendetwas über zehn Monate planen kann für zwei Minuten. Der Druck, den man auf sich selbst aufbaut, wird irre.
Büchel: Erinnerst du dich an dein erstes Mal in Kitzbühel?
Cuche: Besser, als mir lieb ist, obwohl es schon fast 16 Jahre her ist. 1996, beim ersten Training, wollte ich vor lauter Angst gar nicht in die Starthütte. Als ich dann drin war, wollte ich hinten wieder raus. Die Coaches haben sich amüsiert über den Junior, der sich vor Nervosität in die Hose macht, aber mir war gar nicht nach Lachen zumute. Ich wollte mit der Gondel wieder runterfahren.
Büchel: Es braucht noch mehr Mut, retour zu gehen als nach vorne.
Cuche: Ich glaube, jeder Läufer denkt einmal in seiner Karriere dran, das Starthaus in Kitzbühel wieder nach hinten zu verlassen. Aber du willst nicht einer von denen sein, die wirklich zurückgegangen sind. Ich hatte damals irgendwann so viel Angst, dass mir alles egal war. Ich sagte zu mir: Die anderen haben es geschafft, du schaffst es auch. Einfach raus – und zwar vorne raus.
Büchel: Kitzbühel zu gewinnen ist eine Krönung jeder Karriere, nicht?
Cuche: Sicher. Weltmeisterschaft, Olympia, Kitzbühel . . .
Büchel: Ich hab’ ja jetzt ein bisschen Distanz gewonnen in den zwei Jahren, die ich nicht mehr fahre. Wenn ich mir heute die Pisten anschaue, die ihr runterfahrt, denk ich mir: Die spinnen. Das ist nur noch brutal. Hattest du in Kitzbühel noch nie den Gedanken, ob ihr alle eigentlich spinnt?
Cuche: Die Liste der krassen Unfälle in Kitz ist schon lang, Grugger, damals Dani Albrecht, Ortlieb, Vitalini, das waren schon viele, die es erwischt hat. Aber solange du aktiv bist, blendest du aus, dass du der Nächste sein könntest.
Büchel: Im Vorjahr ist Hans Grugger in der Mausefalle fast ums Leben gekommen. Zwei Tage später bist du an derselben Stelle beim Sprung schon in der Luft in die Hocke gegangen, noch früher als alle anderen. Armin Assinger (An. d. Red.: Ex-Ski-Rennläufer, Co-Kommentator des ORF) ist im Fernsehen fast durchgedreht, hat geschrien: Ja, spinnt denn der total?
Cuche: Das hatte eher mit der Situation zu tun, dass ich sehr früh gemerkt habe, dass ich gut in der Luft bin und hier vielleicht noch ein paar Hundertstel holen kann. Aber allgemein gesagt: Das Geile daran – sorry, wenn ich das so sage – ist ja auch gerade, wenn du so etwas Verrücktes beherrschst. Wenn du die Gefahr überstehst. Und wenn du dann noch im Ziel das grüne Licht siehst, Bestzeit, du jubelst und die Zehntausenden Fans jubeln mit dir. Das ist der schönste Moment, den man haben kann.
Büchel: Ich wollte meiner Frau Doris einmal den Abfahrtssport erklären. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich zur Mausefalle stellen und zusehen, dann versteht sie alles.
Cuche: Als du selbst noch gefahren bist?
Büchel: Ja.
Cuche: Uh! Keine gute Idee.
Büchel: Sie hat das auch nicht lustig gefunden. Als ich im Ziel war, hat sie mich am Kragen gepackt und ganz ernst gesagt: „Mach so was nie mehr mit mir. Ihr seid alle verrückt.“
Cuche: Als Fahrer bekommst du die Mausefalle ja nur von oberhalb des Sprungs mit. Du siehst vom Starthaus aus nur, dass der Pilot über die Kante verschwindet, im freien Fall. Aber wenn ich älter bin, stelle ich mich mal an Doris’ Position. Kann leicht sein, dass ich dann auch denke, dass die alle spinnen . . .