Die Neu-Ulmer Journalistin Mesale Tolu und ihr kleiner Sohn verlassen in einem Auto das Istanbuler Untersuchungsgefängnis, in dem sie seit April inhaftiert waren. Foto:  

Endlich kommt die Neu-Ulmerin Mesale Tolu frei. Sie muss aber in der Türkei bleiben. Warum ihr Verfahren wegen angeblicher Unterstützung von Terroristen so große Bedeutung für die strapazierten deutsch-türkischen Beziehungen hat, erläutert StN-Chefredakteur Christoph Reisinger.

Stuttgart. - Die gute Nachricht: Die Neu-Ulmer Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu darf das Gefängnis in Istanbul verlassen. Die schlechte Nachricht: Tolu muss in der Türkei bleiben; wenn ihr Verfahren wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung Ende April fortgesetzt werden soll, dann wird ein Jahr vergangen sein, seit die Deutsche festgenommen wurde.

Räume für den Rechtsstaat

Erst einmal besteht Grund, hoffnungsfroh auf die gute Nachricht zu schauen. Die lautet über die Tatsache der Freilassung hinaus: Es bestehen in der von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit selbstherrscherlichen Allüren geführten Türkei ganz offensichtlich noch Räume, Recht im rechtsstaatlichen Sinn zu bekommen.

Wie weit der Weg dahin sein kann, wie widersprüchlich die türkische Justiz zuweilen handelt, das macht gerade der Fall Tolu sichtbar: Erst Wochen nach der Festnahme wurde eine konsularische Betreuung der Frau, ihres zweijährigen Sohnes und ihres Ehemannes möglich, der sich ähnlichen Anschuldigungen gegenüber sieht. Das ist zu kritisieren. Aber immerhin, die Betreuung wurde möglich. Tolus Haftbedingungen sind nach deutschen Maßstäben hart. Hinweise, dass sie aus politischen Motiven verschärft worden wären, gibt es aber nicht. Die Untersuchungshaft dauerte rund acht Monate. Das ist beklemmend lang, wo doch bis heute nicht nachvollziehbar ist, welches türkische Recht die Beschuldigte gebrochen haben könnte. Aber immerhin wurde die Haft nun auf richterlichen Beschluss beendet.

Recht auf Raten

In der Summe heißt das: Tolu bekommt allenfalls auf Raten Recht. Aber offensichtlich folgt die türkische Justiz nicht blind und nicht durchweg der hexenjägerischen Stimmung, die von Erdogan seit dem Putsch gegen seine Regierung im Juni 2016 geschürt wird. Das macht Hoffnung für Tolu, ihre Angehörigen und ihre Unterstützer in der schwäbischen Heimat, die sie mit rührenden Initiativen und mit beeindruckender Hartnäckigkeit begleiten. Sieht es doch so aus, als könnten am Ende des Verfahrens Recht und Gerechtigkeit siegen. Das macht ebenso Hoffnung für die Türkei. Ihre rechtsstaatlichen Reflexe sind nicht tot.

Die Frage ist: Sind sie stark genug, dass die vielen aktuell hängenden Verfahren wegen ähnlicher Anschuldigungen auf ähnlich dünner Beweisgrundlage mit Freisprüchen enden? Dass nicht Haftstrafen folgen, bloß weil Journalistinnen und Journalisten ihre Arbeit gewissenhaft und handwerklich sauber erledigt haben?

Diese Frage hat zentrale Bedeutung für das Verhältnis der Türkei zu Deutschland und zur EU. Nach all dem Porzellan, das sie in diesem Jahr zerschlagen haben, liegt es an Erdogan und seinen Getreuen, endlich zur Vertrauensbildung beizutragen. Der Umgang mit den als angebliche Terroristen- und Putschisten-Freunde festgehaltenen Deutschen und Deutsch-Türken bietet dazu die Gelegenheit.

Wo die Regierung Erdogan Recht hat

Die demokratisch gewählte Regierung Erdogan hat an zwei Punkten Recht: Die westliche Solidarität gegen die Putschisten blieb irritierend schwach, und es gibt im Land ein handfestes Problem mit terroristischen kurdischen Formationen. Aber falsch ist es, dass die Regierung so handelt, als sei die Türkei ein Land voller Terroristen, das von nur scheinbar befreundeten Ländern voller Terrorsympathisanten umzingelt ist. Die Hysterie und das kalte Machtkalkül dahinter, mit diesen Argumenten Recht und Freiheit einschränken zu können, beschädigen den Rechtsstaat in der Türkei. Sie beschädigen zugleich seine wichtigsten Außenbeziehungen. Und das schwer.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de