Depression hat viele Gesichter und viele Tränen. Foto:  

Die Diagnose und Zahl psychischer Krankheiten und Befindlichkeitsstörungen nehmen rasant zu. Alarmsignale einer gestörten Gesellschaft oder doch nur Modediagnosen einer „Seelenindustrie“?

Stuttgart - Die Zahl der Psycho-Diagnosen nimmt in Deutschland von Jahr zu Jahr kontinuierlich zu. In kaum einem anderen Land gibt es ein so gut ausgebautes Hilfsangebot an psychologischen Psychotherapeuten und Psychiatern, an Reha-Einrichtungen und psychosomatischen Kliniken. Dennoch müssen Betroffene oft wochen-, ja monatelang auf einen dringend benötigten Therapieplatz warten. Der Vorwurf von Kritikern des Medizinbetriebes wie den renommierten Psychiatern Klaus Dörner, Manfred Lütz und Asmus Finzen oder dem Berliner Wissenschaftsautor Jörg Blech: Über Jahrzehnte sei eine Medizinindustrie entstanden, die vom Geschäft mit den seelischen Leiden profitiert.

„Mode-Diagnosen“

Klaus Dörner. Foto: Daniel Gläßer
Der Psychiater und emeritierte Professor Klaus Dörner, der die Reform-Psychiatrie in Deutschland über Jahrzehnte geprägt hat, spricht in diesem Zusammenhang von „Mode-Diagnosen“. Viele würden davon profitieren: Pharmafirmen, Psychiater, Psychotherapeuten, Psychologen, Kur- und Rehakliniken.

„All diese ‚Mode-Diagnosen‘ wie Mobbing, Burnout oder Borderline-Störung sind neue Wege, um das, was der Patient empfindet, zu erklären“, sagt der 83-jährige Mediziner. „Die Diagnose psychische Krankheit bietet dann die Möglichkeit zu allen möglichen Verschreibungen. Egal, ob das gerechtfertigt ist oder nicht.“

„Irrationaler Psycho-Boom“

Die Grenzen zwischen Befindlichkeitsstörung und echter Krankheit sind fließend, der Spielraum für Diagnosen groß. Nirgendwo wird das so deutlich wie bei dem Stichwort Burnout. Schätzungen zufolge leiden in Deutschland mittlerweile rund zehn Millionen Menschen an einem Zustand akutem oder chronischem Ausgebranntseins. Dabei ist Burnout gar keine Krankheit, wie der Arzt, katholische Theologe und Wissenschaftautor Manfred Lütz klarstellt.

Manfred Lütz. Foto: dpa
Der Psychiater und Psychotherapeut, der seit 1997 das Alexianer-Krankenhauses in Köln leitet, will nach eigener Aussage dem „irrationalen Psycho-Boom entgegenwirken“. Burnout sei eine Befindlichkeitsstörung, ein völlig diffuser Begriff, der mehr als 70 Symptome umfasse, betont der 62-jährige Lütz.

Wer wegen tatsächlicher Überlastung gestresst, gereizt oder erschöpft sei, werde sofort als Burnout-Patient eingestuft. Dabei sei das eigentlich eine gesunde Reaktion auf zu viel Arbeit und Stress. Andererseits könnten sich, so Lütz weiter, verbergen sich hinter dem Befund Burnout tatsächlich schwere Erkrankungen wie Depression verbergen.

Psycho-Wunderland Deutschland

Sind 33 600 Psychotherapeuten genug?

Für Psychologen und Psychotherapeuten ist Deutschland eine Art Wunderland. Es gibt praktisch nichts, was es nicht gibt: Psychoanalyse, Verhaltens- und Tiefenpsychologie, Psychosomatik, Ehe-, Familien- und Gruppentherapie, Körpertherapie, Heil- und Energiearbeit. Rund 33 600 Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten gibt es nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) in Deutschland. Dazu kommen circa 2000 Krankenhäuser mit mehr als 500 000 Betten.

Wer ärztliche Hilfe benötigt, bekommt sie schnell und fast immer – außer bei seelischen Leiden. Einer Studie der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) zufolge warten Betroffene durchschnittlich 80 Tage auf einen Therapieplatz. Laut BPtK fehlen in Deutschland rund 4000 psychotherapeutische Praxen – vor allem ländliche Regionen sind betroffen.

„Je kränker, desto weniger Hilfen stehen zur Verfügung“

Die Aufstockung könnte das Problem der langen Wartezeiten auch nicht lösen, entgegnet Manfred Lütz. Zu viele Menschen, die sich krank fühlten, aber nur eine Befindlichkeitsstörung hätten, würden die Therapieplätze belegen. „Das geht zum Nachteil derer, die wirklich krank sind.“

Dass mehr Therapiepraxen automatisch mehr Hilfen bedeuten, bezweifelt auch Heiner Melchinger, Versorgungsforscher am Diakoniekrankenhaus Henriettenstiftung, einer Klinik für Medizinische Rehabilitation und Geriatrie in Hannover. Mit jedem Angebot wächst seiner Ansicht nach die Nachfrage. „Von Psychotherapeuten werden hauptsächlich jüngere und leichter erkrankte Patienten behandelt. Schwerer psychisch Erkrankte werden dagegen abgewiesen“, so Melchingers Erfahrung. Während Therapien ausgebucht seien, würde die ambulante psychiatrische Versorgung immer schlechter, warnt der Mediziner. „Je kränker die Menschen sind, desto weniger Hilfen stehen ihnen zur Verfügung.“

Boom der Psycho-Diagnosen

Psychische Krankheiten und Störungen werden heute sehr viel häufiger diagnostiziert als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dabei sind die Menschen heutzutage nicht deutlich anfälliger für Psycho-Leiden als früher. Eine Studie der Universität Münster aus dem Jahr 2009 hat bereits gezeigt: Psychische Störungen wie Depression, Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen haben nicht oder zumindest nicht dramatisch zugenommen.

Wohl aber fühlen sich viele Menschen angesichts stärkerer beruflicher oder familiärer Belastungen immer kränker. Die Grenzen zwischen Befindlichkeitsstörung und echter seelischer Erkrankung sind dabei allerdings fließend und der Spielraum für Diagnose und Therapie des behandelnden Arztes, Psychologen oder Psychotherapeuten entsprechend groß.

Wie Psycho-Erkrankungen diagnostiziert werden

Diagnoseschlüssel: DSM-V und ICD-10

Psychische Erkrankungen werden anhand von Diagnoseschlüsseln diagnostiziert. Die beiden maßgeblichen Handbücher sind das DSM-V (fünfte Auflage des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, 2013, englisch für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“).

Dieses Klassifikationssystem in der Psychiatrie wird seit 1952 von der „American Psychiatric Association“ (APA, Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft) herausgegeben. Es ist eine Art Bibel der Psycho-Branche. In diesem Manual wird definiert, was die Grenzen zwischen Krankheit und Normalität sind.

Der rund 1000 Seiten dicke Wälzer ist weltweit das Standardwerk, nach dem sich auch der Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation WHO, das ICD-10 („Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“, die elfte Auflage soll 2018 erscheinen) richtet. Nach diesem Diagnoseschlüssel wird in Deutschland jede, auch psychiatrische Krankheit klassifiziert.

„Hyperinflation“ der Psycho-Diagnosen

Die DSM- und ICD-Kataloge führen regelmäßig zu Diskussionen unter Forschern und Ärzten. Der Grund: Die Zahl der Diagnosen wächst seit der Erstauflage des DSM-I 1952 stetig an. Als er 1968 seine Psychiaterkarriere begann, berichtet Asmus Finzen (76), emeritierter Professor für Sozialpsychiatrie und Wissenschaftspublizist, habe es für die Psychiatrie nur wenige Dutzend Diagnosen gegeben. Heute seien es mehrere hundert. Und mit jeder DSM- und ICD-Neuauflage würden weitere dazukommen.

Finzen, der von 1987 bis 2003 die allgemeine und Sozialpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel leitete, spricht von einer „Hyperinflation“. Die Diagnosekriterien seien so ausgeweitet worden, dass sich die psychischen Erkrankungen gleich mit vervielfacht hätten

Entstigmatisierung psychischer Leiden

Der deutsche Sozialwissenschaftler und Psychiatrie-Experte Dirk Richter, Dozent für Psychosoziale Gesundheit, Aggressionsmanagement und Epidemiologie an der Berner Fachhochschule, sieht den Grund für die epidemisch um sich greifenden Erschöpfungszustände in der zunehmenden Entstigmatisierung psychischer Leiden in der Gesellschaft. Depression, welche die Mehrheit der Diagnosen ausmachte, sei heute mit weniger Vorurteilen behaftet als früher, erklärt Richter. Deshalb würden sich auch mehr Menschen einem Seelen-Fachmann anvertrauen und die Leiden würden besser erkannt werden.

„Wir pathologisieren zu schnell und schreiben zu schnell krank“

Diesen Anstieg der Psycho-Diagnosen bestätigt auch der Psychiater Wolfgang Schneider von der Universität Rostock. Die Gesellschaft öffne sich gegenüber psychischen Krankheiten. Positiv daran sei, dass der Seele mehr Raum gegeben werde. Brisant sei hingegen, dass vielem ein Krankheitswert attestiert werde, was früher kaum der Rede und schon gar nicht eine Wochen- und mitunter monatelange Krankschreibung wert. Schneider: „Ich habe das Gefühl, wir pathologisieren zu schnell und schreiben zu schnell krank.“

Die traumatisierte Seele

Was sagt die Statistik?

Betrachtet man die Statistik stellt man einen regelrechten Psycho-Boom in Deutschland fest. Fast jeder dritte Erwachsene litt im Jahr 2012 an einer psychischen Störung. Die Krankenkassen und Rentenversicherungen verzeichneten in vergangenen Jahren eine kontinuierliche Zunahme der Krankschreibungen und Frühverrentungen wegen psychischer Erkrankungen.

Dies gilt auch für die Psycho-Traumatologie. Sie beschäftigt sich mit den Folgen von Traumata, erforscht und behandelt die Auswirkungen von traumatischen Ereignissen auf das Erleben und Verhalten von Einzelnen und Gruppen. Der aus der Unfallchirurgie stammende Begriff „Traumatology“ wurde 1990 von dem amerikanischen Kinderpsychiater Dennis Donovan auf psychische Verletzungen angewendet. Daraus entwickelte sich das Konzept der Psychotraumatologie.

Was ist ein Trauma?

Psycho-Traumata sind seelische Wunde und Verletzungen, die auf ein oder auch mehrere Vorkommnisse zurückgehen, bei denen der Betroffene extremer Angst und Hilflosigkeit ausgesetzt ist, die ihn seelisch komplett überfordern. Aus Selbstschutz versucht er die traumatischen Erlebnisse und grauenhaften Bilder in seinem Kopf zu verdrängen.

Die Tatsache, dass der Mensch Gewalt-, Trennungs-, Missbrauchs- oder Kriegserfahrungen nicht einfach ad hoc verarbeiten kann, führt zu sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) – also nachwirkenden seelischen Belastungen.

Obwohl dieses Phänomen seit langem bekannt ist, werden PTBS erst seit 1980 im Zusammenhang mit dissoziativen Störungen (bei der zusammengehörige Informationen, Wahrnehmungen oder Gedanken nicht mehr miteinander in Verbindung gebracht werden können) mit der Aufnahme in das DSM-3 diagnostiziert.

„Wenn es eine Diagnose gibt, wird sie auch vermarktet“

„Wenn es eine Diagnose gibt, wird sie auch vermarktet“, erklärt Finzen. Hinter dieser Meinung steht der Verdacht gegenüber der Psychiatrie, Psychotherapie und ihren Vertretern, dass sie neue Krankheiten erfinden und das Leben so „pathologisieren“. Ein zentraler Vorwurf von Kritikern wie Manfred Lütz und Klaus Dörner lautet: Der Begriff der psychiatrischen Störung werde im DSM und ICD so ausgeweitet, dass am Ende jeder ein potenzieller Patient sein kann.

Schicksalschlag und Trauma

Was früher Schicksalsschlag genannt wurde (der Verlust eines Angehörigen, der Tod eines Kindes, eine schwere Erkrankung, eine Gewalterfahrung) wird heute Trauma genannt. Jede bedeutende psychotherapeutische Schule hat diesbezüglich eigene Therapieansätze zur Behandlung posttraumatischer Störungen entwickelt. Hier eine Übersicht über einige Therapieverfahren:

Psychoanalyse

Tiefenpsychologisch wird nach den Auswirkungen von Traumatisierungen auf das Unbewusste gesucht. In 100 und mehr Einzelsitzungen sollen tief verborgene und verdrängte Erlebnisse hervorgeholt, thematisiert und so verarbeitet werden.

Imaginative Verfahren

Dabei werden tiefere Schichten der Seele, die im Alltag ausgeblendet werden, durch innere Bilder und Träume hervorgeholt. Dies soll letztlich zu einer psychisch-bewussten und tieferen Ebene der Verarbeitung führen.

Verhaltenstherapie

Sie wird eingesetzt, um belastende Erinnerungen wahrzunehmen, abzuschwächen und durch eintrainierte Schutzmechanismen beherrschbar zu machen.

Narrative Verfahren

Hierbei geht es darum, dass traumatisierte Menschen ihren inneren Drang ausleben können, verlorene, isolierte oder verdrängte Traumata nachzuerzählen. Durch die Schilderung (Narration) der persönlichen Lebensgeschichte versucht man einen Sinn und Zusammenhang in den Erlebnissen zu erkennen.

Gestalttherapie

Die Gestalttherapie ist eine psychotherapeutische Methode, um ganzheitlich (integrativ) Körper, Geist und Seele an der Trauma-Verarbeitung teilhaben zu lassen. Alle drei Ebenen sowie das soziale Umfeld des Betroffenen beeinflussen sich wechselseitige und sind in der Therapie zu berücksichtigen, etwa in körpertherapeutischen Verfahren wie der Kunsttherapie. Die Hände werden beim Malen, Formen und Gestalten eingesetzt und so zu Instrumenten einer geistig-seelischen Verarbeitung der Traumata.

Medikamentöse Behandlung

Bestimmte Krankheitsbilder führen zu seelischen Symptomen wie Phobien, Panikattacken oder Niedergeschlagenheit, die sich nur mit Hilfe spezieller Medikamente (etwa Tranquilizer, Antidepressiva oder Neuroleptika) behandeln lassen. Allerdings ist umstritten, ob solche Medikamente bei Trauma-Patienten der richtige Weg sind – auch deshalb, weil sie nicht die Ursachen der Belastungsstörungen angehen.