Großbritanniens Premierministerin Theresa May balanciert vor der Abstimmung im Londoner Unterhaus über den Brexit am Dienstag auf Messers Schneide. Foto: dpa

Für die britische Premierministerin bricht die Brexit-Endzeit an. Die Abstimmung im Unterhaus wird für Theresa May zum Härtetest – doch sie hat sich aus eigener Schuld in die Defensive manövriert.

London - Niemand spricht Theresa May Beharrlichkeit ab. Auch nicht Durchhaltevermögen, Zielbewusstheit, eisernen Willen. Ob dieser Wille May zum Ziel führen wird, vermag niemand zu sagen. Manche ihrer Anhänger sehen in der britischen Premierministerin die heroische Marathonläuferin, die sich kommenden Dienstag mit letzter Kraft über die Ziellinie werfen wird, nach einer Tortur von mehr als zwei Jahren – und deren Trotz und Unbeirrbarkeit zu guter Letzt eine enorme Überraschung bereiten werden.

Andere ihrer Landsleute glauben, dass sie mit durchgetretenem Gaspedal auf eine Mauer zurast, in furchtbarer Verblendung. Und dass sie diese Mauer von Anfang an angesteuert hat, weil sie ihren Realitätssinn vor Langem schon stur verfolgten Prinzipien opferte.   In ungläubiger Faszination verfolgen die Briten, wie die 62-Jährige erst unter Aufbietung aller Kräfte ihr Brexit-Abkommen erstritt und es nun daheim durchzusetzen sucht, komme, was wolle. Wie sie sich Tag für Tag an ihren Gegnern abkämpft, schwere Hiebe einsteckt, sich erneut aufrappelt und danach gleich wieder aufs Schlachtfeld tänzelt.

„Brexit heißt Brexit“, hat sie ja immer wieder gesagt, nur um sich auf den Beinen zu halten. Ihr sei May oft vorgekommen „wie eine Briefträgerin, die sich durch einen Schneesturm kämpft“, hat einmal die Londoner Kolumnistin Gaby Hinsliff erklärt. „Und die nur einfach ausliefern will, was das Volk bei ihr bestellt hat – als ob ihre eigenen Gefühle dabei nie eine Rolle spielten.“   Auch als May diese Woche die fünftägige Debatte eröffnete, die endlich eine Entscheidung bringen soll in Sachen EU-Austritt, gab sie die gleichen Parolen aus, die sie in den letzten zwei Jahren hundertmal ausgegeben hatte. 

May ist die Zielscheibe wütenden Widerspruchs

Nämlich, dass sie schlicht „den Auftrag“ erfülle, den ihr die Briten mit dem Referendumsbeschluss von 2016 erteilt hätten. Dass dieser Beschluss „unserem Land eine neue Rolle in der Welt“ verschaffen werde. Dass Großbritannien „außerhalb der EU eine bessere Zukunft“ erwarte.   Mit ihrem in Brüssel ausgehandelten Deal, hat May dem Parlament ein weiteres Mal feierlich versichert, eigne sich Großbritannien wieder „die Kontrolle über unsere Grenzen, unsere Gesetze und unsere Gelder an“.

Vierzig Stunden Debatte, verteilt auf fünf Tage, sind zur Verabschiedung des Austrittsvertrags angesetzt. Am kommenden Dienstagabend soll die Abstimmung stattfinden. Aber statt zum Triumph ist Mays Kraftakt zur Zielscheibe wütenden Widerspruchs in Westminster geworden. Nicht nur die gesamte Opposition lehnt einen Deal ab, der die Briten ihres Einflusses in Europa beraubt, ohne sie aus EU-Banden zu entlassen, und der nach Einschätzung vieler Ökonomen das Land ärmer machen wird. Nein, sogar die nordirischen Unionisten, die Mays Minderheitsregierung seit vorigem Jahr im Amt halten, haben sich gegen sie gestellt. Vor allem aber droht, außer einigen konservativen Proeuropäern, eine ganze Phalanx zorniger Tory-Hardliner mit Ablehnung.

Allen Beschwichtigungsbemühungen Mays zum Trotz verweigern diese Brexiteers die Gefolgschaft. Sie betrachten Mays Deal mit der EU als „Verrat“. Einige von ihnen haben in ihrer Empörung gelobt, May bei erstbester Gelegenheit zu stürzen. Rund achtzig „Rebellen“ sollen zu dieser Gruppe gehören. Selbst wenn es am Ende nur halb so viele wären, hätte May Schwierigkeiten, ihren Deal durchs Unterhaus zu bringen. Überrascht muss sie selbst gewesen sein vom Ausmaß der Feindseligkeit, das ihr aus den eigenen Reihen entgegengekommen ist.   Bei ihren zahllosen Auftritten im Parlament hat sich ein verbaler Dolch nach dem anderen in ihren Rücken gebohrt.

Alles in Westminster steht zum Absprung bereit

Das bestätigte sich just zu Beginn der Debatte, als Mays Regierung gleich drei Niederlagen auf einmal einstecken musste. Im einen Fall erzwang das Unterhaus eine Veröffentlichung des juristischen Gutachtens zum Brexit, das May als vertraulich betrachtet hatte. Im andern machte es klar, dass es keinen Austritt ohne Vereinbarung mit der EU dulden will – und spätestens im Januar selbst den Kurs vorzugeben plant, falls bis dahin nichts gelöst ist.

May versucht, das alles an sich abgleiten zu lassen. Wahr ist aber, dass es einsam geworden ist um sie. Selbst im Kabinett weiß sie in der gegenwärtigen Brexit-Endzeitstimmung kaum noch jemanden an ihrer Seite. Die hinter ihr hertrotten, tun es zähneknirschend und beteuern stets, dass Mays Deal „natürlich nicht perfekt“ sei. Alles in Westminster steht zum Absprung bereit, für den Fall der Fälle.

Die konservative Fraktion beginnt sich aufzulösen in einander bekämpfende Bestandteile. Derweil tingelt May, wann immer sie abkömmlich ist, unbeirrt durch die Lande. Die übermenschliche Anstrengung, die es sie gekostet hat, alles so lange beieinanderzuhalten, ist ihr neuerdings anzusehen. Ihre spröde Fassade hat sich seit den Tagen, in denen der frühere Vizepremierminister Nick Clegg sie „die Eiskönigin“ taufte, weiter verhärtet. Deutliche Müdigkeit überschattet ihre Züge. Ihre Sprache ist noch hölzerner geworden – schon wegen der ewig gleichen Phrasen, mit denen sie arbeitet.   Und dennoch will sie nicht aufgeben, will sie weiter streiten.

Mays Vorgänger David Cameron hat das Chaos verursacht

Diese Unverdrossenheit hat ihr, je härter die Angriffe auf sie geworden sind, umso mehr stummen Respekt im Land eingehandelt.   Gleichzeitig mit dem Kollaps ihrer Basis in der Partei zeigt ihre Popularität einen leichten Aufwärtstrend. Ein Vorgänger im Amt, Tony Blair, zollt ihr Anerkennung dafür: „Sie versucht ja nur, aus einem schlechten Job das Beste zu machen.“ Die frühere Downing-Street-Kommunikationschefin Katie Perrior staunt darüber, wie May „aufblüht, wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht“. Nach Perriors Ansicht geht May davon aus, dass sie das Chaos ja nicht verursacht habe, das David Cameron mit seinem Referendum dem Land bescherte: „Sie hat nur versucht, die Sache in Ordnung zu bringen – was vielleicht von Anfang an ein Ding der Unmöglichkeit war.“  

Eine so verständnisvolle Haltung bringen nicht alle Briten Theresa May entgegen. Unvergessen ist geblieben, wie unbedacht die frisch gekürte Premierministerin ihre „roten Linien“ in den Sand zog. Wie sie zu einer Zeit, da das keinesfalls nötig war, harte Verhandlungspositionen einnahm und erste Barrikaden errichtete, nur um die Hardliner der Tory-Rechten, die „Brextremisten“, gnädig zu stimmen.   Wiewohl das Referendumsergebnis von 2016 lediglich besagte, dass 52 Prozent der Wähler für den Austritt aus der EU plädierten, deutete May „den Volkswillen“ prompt als Auftrag an die Regierung, Großbritannien auch aus Binnenmarkt und Zollunion der Union zu hebeln, es vom „Joch“ des Europäischen Gerichtshofs zu befreien und den Briten die weitere Übersendung „großer Summen“ an Brüssel zu ersparen.

Vor allem verlangten ihre Landsleute, so verstand es May, ein Ende aller unerwünschten Migration „aus Europa“. Diese Forderung, die Top-Priorität der Premierministerin, entsprach am stärksten ihren eigenen Instinkten.   Schon als Innenministerin mit deutlich illiberalen Tendenzen hatte May keinen Zweifel daran gelassen, wie wenig willkommen ihr Ausländer, Zuzügler und Flüchtlinge waren. Von einsamen Wanderungen in den Schweizer Hochalpen abgesehen, verband sie nichts mit Europa. Der Kontinent ist ihr fremd geblieben.

Mit der Opposition setzte sich May nicht zusammen

Daheim wollte sie immer schnell die Zugbrücken hochziehen. Europäischer Freizügigkeit an den Grenzen Englands „ein für alle Mal“ ein Ende zu bereiten, hat sie noch vor wenigen Tagen als ihr großes, persönliches Ziel bezeichnet. Zur „Obsession“, zu einer fixen Idee, klagen ihre Kritiker, sei das bei Theresa May geworden.   Zweifellos erklärt sich aus Mays zwiespältiger Haltung zur EU ein Teil des Problems, in dem sie sich jetzt findet. Im Wirtschaftsbereich, beim Handel wollte May immer offene Grenzen. Um sich aber die Europäer selbst vom Hals zu halten, will sie nun die Schlagbäume herunterlassen. Das glaubt sie ihren Brexit-Wählern schuldig zu sein.

Die „enge Weltsicht“, die ihr viele Oppositionspolitiker vorhalten, dürfte May auch, in ihrer rigiden Art, von einer versöhnlicheren Brexit-Lösung abgehalten haben, mit der sie die beim Referendum unterlegenen 48 Prozent oder das für weitere EU-Mitgliedschaft stimmende Schottland hätte einbeziehen können.   Eine „sanfte“ Landung beim Brexit mochte sie nicht in Erwägung ziehen. Sich mit Oppositionsparteien zusammenzusetzen kam für sie nicht infrage.

Ihr Glaube, aller Welt eine Lösung diktieren zu können, führte dazu, dass sie „Softies“ und „kontrollwütige“ Abgeordnete gleichermaßen ignorierte.   Dabei gab es im Unterhaus immer eine breite proeuropäische Mehrheit, die sie mit etwas Geschick und Flexibilität hätte mobilisieren können. Nun stößt sie mit ihrem Streitruf „Mein Deal oder kein Deal“ an eigene Grenzen – und das ausgerechnet in dem Moment, in dem es um alles geht in Westminster. Keine „Norwegen-Lösung“ will sie ins Auge fassen, keinen neuen Volksentscheid, keine Verschiebung des Brexit-Datums zulassen.  

Die meisten Beobachter geben May wenig Chancen

Dass nun gar der Europäische Gerichtshof signalisiert, London könne die britische Austrittserklärung jederzeit vor dem Austritt wieder zurückziehen, muss May nach zwei zermürbenden Jahren wie Hohn vorkommen. Ihre Nemesis, die EU, weiß offenbar, wie sie May noch einmal zu schockieren vermag bei ihrer großen Debatte.

Die meisten Beobachter geben ihr wenig Chancen, heil die Weihnachtszeit zu erreichen. Nur Anne McElvoy, die prominente Stimme des Londoner „Economist“, hat davor gewarnt, die „Brexit-Premierministerin“ allzu schnell abzuschreiben: „May stand in ihrer unfallträchtigen Amtszeit fast immer am Rande des Abgrunds. Sie weiß, wie man in hohen Schuhen auf Messers Schneide balanciert.“  

Mayday-Rufe in Westminster? SOS-Signale aus Downing Street? Natürlich wisse May, dass ihre Zeit bemessen ist, meint McElvoy: „Aber irgendwie ist es bei May immer Mayday. Und am nächsten Morgen ist sie immer noch da.“