Zweierlei hat diese Oscar-Verleihung im Vorfeld geprägt: Der Rassismus-Vorwurf, weil keine Afroamerikaner nominiert waren – und die Frage, ob Leonardo DiCaprio zum Zuge kommen würde. Zumindest letzteres ist geklärt worden in der Nacht zu Montag im Dolby Theater zu Hollywood.
Hollywood - Die meistgebrauchte Vokabel am Tag danach: endlich. Leonardo DiCaprio hat den Oscar als bester Hauptdarsteller. Nie war er zu übersehen, nicht in „Titanic“ (1997), nicht in „Gangs Of New York“ (2002), nicht in „Inception“ (2010). Fast aufdringlich wurde er als pedantischer Unsympath J. Edgar Hoover (2011), dem ersten Direktor der US-Bundespolizei FBI.
Nun spielt er in „The Revenant“ den Scout Hugh Glass im Montana der 1820er Jahre, der Pelzjägern den Weg weist. Als er von einem Grizzly angefallen und schwer verletzt wird, lassen ihn seine Reisegefährten alleine im Wald zurück – doch er kämpft sich gegen jede Wahrscheinlichkeit zurück zum Fort. Viel zu sagen gibt es da nicht, aber körperlich durchspielt DiCaprio alle Facetten eines waidwunden Menschen inmitten von Barbaren, die gnadenlos Indianer abschlachten. Der Völkermord ist das Thema des Films, die Hauptfigur, der ein Indianer das Leben rettet, nur das Vehikel dafür.
DiCaprio hat den Oscar verdient für eine reife Leistung – auch gegen starke Konkurrenten, „Michael Fassbender („Steve Jobs“) oder Eddie Redmayne („The Danish Girl“).
Appelle und Mahnungen
DiCaprio dankt seinem Mentor Martin Scorsese, mit dem er fünf Filme gemacht hat: „Er hat mir so viel beigebracht.“ Dann nutzt er das Podium für eine Mahnung: „Der Klimawandel ist real“, sagt DiCaprio, „nehmt diesen Planeten nicht als Selbstverständlichkeit – für mich ist dieser Abend nicht selbstverständlich.“
Zwei weitere wichtige Oscars gehen an „The Revenant“: Regisseur Alejandro González Iñárritu bekommt ihn zum zweiten Mal in Folge nach „Birdman“, Kameramann Emmanuel Lubezki gar zum dritten Mal in Folge nach „Birdman“ und „Gravity“. Auch Iñárritu, der sein Drama auch Dank epischer Panoramen Lubezkis zur Tragödie biblischen Ausmaßes geweitet hat, formuliert einen Appell: „Wir müssen die Vorurteile loswerden und alles tun, damit Hautfarbe so irrelevant wird wie die Länge der Haare.“
Lob für guten Journalismus
Zum besten Film hat es nicht gereicht – zu diesem wird das Drama „Spotlight“ gekürt, in dem Reporter des Boston Globe Missbrauch in der katholische Kirche aufdecken. Regisseur Tom McCarthy hat einen realen Fall fiktionalisiert und zeigt verstörte Opfer, selbstgerechte Kardinäle, rudernde Juristen und tapfere Reporter, die in manchen Zwiespalt geraten, sauber recherchieren und tun, was sie tun müssen. Auch der Drehbuch-Oscar ist verdient für dieses differenzierte Bild und diese Hommage an investigative Journalisten, denen McCarthy den Preis widmet.
Und natürlich den Opfern, für die Lady Gaga „Till It Happens To You“ singt, den Titelsong des Dokumentarfilms „The Hunting Ground“ über Vergwaltigungen an US-Universitäten. Am Ende kommen Menschen auf die Bühne, auf deren Unterarme Parolen gemalt sind: „Not Your Fault“ („Nicht dein Fehler“), „Survivor“ (Überlebende“). Den Oscar bekommt dann nicht Lady Gaga – sondern Sam Smith für seine James-Bond-Melodie „Writing’s On The Wall“, die nicht wenige längst wieder vergessen hatten.
Europäische Generationen
Zur Aufsteigerin des Abends wird die schwedische Schauspielerin Alicia Vikander (27) – mit ihrer ersten Nebenrollen-Nominierung im Transgender-Drama „The Danish Girl“ holt sie sich gleich ihren ersten Oscar. Fast noch einnehmender war sie im Zukunfts-Drama „Ex Machina“. Darin verkörpert die eine Androidin, die Menschenrechte einfordert. Immerhin gab es dafür – zu Recht – den Oscar für die besten visuellen Effekte.
Schon in den 1960ern Oscar-reif war der Italiener Ennio Morricone (87), der Sergio Leone die heute gefeierten Musiken zu den Spätwestern „The Good, The Bad And The Ugly“ (1966) und „ Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) schrieb. Nun hat er dem Leone-Verehrer Quentin Tarantino nachgegeben und ihm für „The Hateful Eight“ beklemmende Grusel-Klänge geliefert, die das Blutbad passend untermalen. Sichtlich gerührt ist Morricone und dankt auf Italienisch.
Ist Hollywood rassistisch?
Und der Rassismus? Wieso hat in den 1960er Jahren niemand protestiert, wenn es keine afroamerikanische Nominierte gab? „Weil wir damals reale Themen hatten“, sagt Moderator Chris Rock (51) in Anspielung auf die Bürgerrechtsbewegung. „Wir waren zu sehr damit beschäftigt, vergewaltigt und gelyncht zu werden, um uns für die beste Kameraarbeit zu interessieren.“ Der Comedian und Schauspieler kontert harte Worte mit einem gewinnenden Grinsen, er witzelt über Kategorien nur für Schwarze und sagt über Hollywood: „Sie geben Afroamerikanern keine Jobs, aber sie sind die nettesten Menschen der Welt, denn sie sind Liberale.“ Dann ruft er: „Wir wollen Angebote!“
Cheryl Boone Isaacs, Präsidentin der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die die Oscars verleiht, nimmt die Herrscher übers Filmgeschäft in die Pflicht: „Wer Möglichkeiten hat, hat auch Verantwortung“, sagt sie und zitiert Martin Luther King: „Das Maß für einen Menschen ist, wo er bei Herausforderungen und Kontroversen steht.“
Rock zeigt später eine Umfrage vor einem Kino im Problemviertel Compton. Keiner der befragten Schwarzen, stellt er fest, kennt auch nur einen der nominierten Filme – außer dem HipHop-Biopic „Straight Outta Compton“. Gespaltene Gesellschaft? In spontanen Oscar-Ansprachen fordern die Befragten in mitunter kruder Sprache sehr klar immer wieder eines: Gleichberechtigung.
Sogar „Ehrenmorde“ sind ein Thema
Um die geht es auch der pakistanischen Dokumentarfilmerin Sharmeen Obaid Chinoy (37), aber für Frauen. Sie bekommt bereits ihren zweiten Oscar für „A Girl in the River – The Price of Forgiveness“ um eine junge Frau, die einen Mordversuch ihrer Familie überlebt. Der pakistanische Ministerpräsident Nawaz Sharif hatte schon nach der Nominierung des Films angekündigt, sogenannte „Ehrenmorde“ endlich unter Strafe zu stellen. „Das ist die Macht des Films!“, ruft Obaid Chinoy.
Der Abend zeigt: Hollywood greift zwischen vielen leichten Blockbustern sehr wohl noch wichtige Themen auf. Immerhin fürs beste adaptierte Drehbuch wird die Finanzkrisen-Satire „The Big Short“ ausgezeichnet. Autor Adam McKay sagt: „Wenn ihr nicht wollt, dass das große Geld die Regierung kontrolliert, wählt keine Kandidaten, die Geld von großen Banken, Ölfirmen oder spinnerten Milliardären annehmen!“
Von Amerika lernen
Alle Technik-Kategorien außer den visuellen Effekten gehen an einen jener Filme, die ernste Cineasten in Europa gerne unterschätzen: Die Neuauflage von „Mad Max“, eine furiose Dystopie über die Zeit nach der Apokalypse. Die Charakterdarsteller Tom Hardy (grandios auch in „The Revenant“) und Charlize Theron tragen den Film, den Rest besorgen die Maschinen-Kulisse und ein Bösewicht mit irren Augen und Monster-Maske – für Genre-Freunde einer der Filme 2015.
„Ein Mann, der Probleme mit seiner geistigen Gesundheit hat, eine einarmige Amazone und fünf entlaufene Sexsklavinnen – das ist ein Oscar für die Vielfalt“, sagt Szenenbildner Colin Gibson in seiner Dankesrede. Mit Humor geht alles besser, auch im amerikanischen Show-Business.
Den Animationsfilm-Oscar gewinnt wenig überraschend „Alles steht Kopf“, das exzellente Drama im Hirn eines Mädchens, das in die Pubertät kommt. „Wir haben unsere eigenen Kinder beobachtet“, sagt Regisseur Pete Docter und widmet den Oscar allen Teenagern dieser Welt: „Ihr seid oft ohne Grund traurig, zornig oder verängstigt, aber ihr könnt etwas tun, ihr könnt Filme machen, schreiben, malen – und schon sieht die Welt ganz anders aus.“
Allen Krisen und seltsamen Kandidaten zum Trotz haben die Amerikaner nicht vergessen, was ihr Land und ihre Filmindustrie einst groß gemacht hat: Der Glaube daran, dass jeder selbst etwas schaffen kann.