Es gibt kein richtiges Leben im falschen? Von wegen! Auf dem Album „Fake“ emanzipiert sich das Stuttgarter Trio Die Nerven vom Noiserock, entdeckt die Eindringlichkeit der Stille und bleibt eine der wichtigsten und besten Bands Deutschlands.
Stuttgart - Ein alter Synthesizer seufzt in Moll, eine Akustikgitarre haucht Fingerpickings zwischen die Harmonien, und Max Rieger und Julian Knoth lullen einen mit einem zarten Mantra ein: „Her mit euren Lügen, her mit eurem Neid!“, singen sie in „Fake“, empfehlen sich als Blitzableiter der Erregungskultur und Empörungsgesellschaft. Wo sind die Wut, der Hass, der Frust hin? Was ist bloß los mit diesen Posterboys des Noiserock, die vor ein paar Jahren Stuttgart mit unvermittelter Vehemenz zum Epizentrum einer Rock-’n’-Roll-Rebellion gemacht haben? Still ist das neue Laut – zumindest im Titelsong des Albums, das an diesem Freitag erscheint. Dieser Titelsong übertönt mit seiner eindringlichen Sanftheit am Ende der Platte den Krach, der zuvor dann doch immer wieder in den Liedern dieser smarten Underground-Boygroup den Ton angibt.
„Fake“ empfiehlt sich schon jetzt für die Jahresbestenlisten
Die Nerven sind mit ihren Alben „Fluidum“, „Fun“ und „Out“ zur Lieblingsband der Berliner Hipster und des deutschen Feuilletons geworden. Sie waren Armin Petras’ RAF-Partyband in dem Stück „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. Doch nach dem Hype ist vor dem Hype. Max Rieger (Gitarre, Gesang), Julian Knoth (Bass, Gesang) und Kevin Kuhn (Schlagzeug) haben es mit ihrer neuen Platte aufs Cover des Magazins „Intro“ und ein bisschen aufs Cover des Schlaubergerheftchens „Spex“ geschafft – und werden am Ende des Jahres mit „Fake“ weit vorne in den Hitlisten der meisten Popkritiker der Republik landen. Da gehört dieses Album auch unbedingt hin.
„Die Zeit“ hat Die Nerven mal zu der „am miesesten gelaunten Rockband“ des Landes erklärt. Aber wer glaubt schon im Zeitalter von alternativen Fakten solchen Traditionsblättern? Und „Fake“ kann es beweisen. Die Platte lehrt einen, Widersprüche auszuhalten. „Wir machen alles falsch, wir machen alles richtig“, heißt es in der knurrigen Hardcore-Nummer „Alles falsch“, das Postrock-Epos „Dunst“ verirrt sich in ein falsches Leben, das Album beginnt und endet mit Songs übers Lügen („Neue Welle“, „Fake“). Und selbst der Zorn der Nerven ist auf einmal zweifelhaft.
Das Gegenstück zum sanften „Fake“ ist das fies groovende „Frei“. Darin meckert Max Rieger „immer nur dagegen, immer nur dagegen, aber gegen was?“ und dekonstruiert damit auch die eigene Bandgeschichte: „Das meint schon auch uns selbst“, sagt er, „der Zorn war immer da. Aber eigentlich geht es dabei gar nicht um Negation, sondern eher um die Energie, die mit dem Zorn verbunden ist.“ Und Julian Knoth sagt: „Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wo der Zorn herkam. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich langsam alt werde.“
Songs, die trotz verzerrter Gitarren ein Herz aus Pop haben
Mit dem Zorn ist den Nerven auch etwas der Lärm abhandengekommen. „Ich hatte das Gefühl, wir hatten immer schon gute Melodien“, sagt Rieger, „die hat man bisher nur nicht so gehört.“ Weil sie sich hinter verzerrten Riffs und der Soundtextur versteckten. Inzwischen nähert sich die Band mehr und mehr großartigen Popentwürfen an. Das Werk der Nerven erweist sich dabei als ein Entwicklungsroman. Der Sturm-und-Drang-Phase folgt eine Phase, die zwischen Gelassenheit, Reflexion, Genervtheit und Resignation alterniert, die aber immer noch Platz lässt für den einen oder anderen Aggressions- und Frustrationsschub – nur jetzt etwas hübscher verpackt. Der Song „Niemals“, in dem über die Selbstverwirklichungskultur gewettert wird, hat trotz der verzerrten Gitarren ein Herz aus Pop. Auch über Musik, Mode und Meinung für Millionen wird geschimpft („Skandinavisches Design“). Und auch auf „Fake“ gefallen sich Die Nerven immer noch als Neinsager und Schwarzseher („Explosionen“).
Voraussetzung für das Über-sich-hinaus-Wachsen dieser Band ist auch, dass sich die drei inzwischen auseinandergelebt haben. Zuletzt wohnte Rieger in Leipzig, Kuhn in Berlin, Knoth in Stuttgart. Das, die vielen Projekte, die jeder in der Band noch nebenher hat, und die unterschiedlichen Musikgeschmäcker verkomplizieren die Arbeit, bereichern sie aber auch. Obwohl Die Nerven immer noch Bands wie Hüsker Dü, Sonic Youth oder Fugazi viel zu verdanken haben, empfiehlt Max Rieger derzeit die neuesten R-’n’-B-Alben von Beyoncé und Frank Ocean, schwärmt Julian Knoth vom Indierock von Wolf Alice, und Kevin Kuhn bevorzugt die skurril-kuriosen Ausgrabungen des Light-in-the-Attic-Labels.
Einige Stücke sind auf der Stuttgarter Theaterbühne entstanden
Die „Fake“-Songs sind mal auf Theaterbühnen in Stuttgart und Berlin entstanden („Neue Wellen“, „Dunst“), für andere wie „Explosionen“ kam Rieger mit einem Gitarrenriff an, an dem sich die Band dann abgearbeitet hat. Und den Song „Fake“ haben sich Rieger und Knoth innerhalb von zwei Stunden mit einem alten Synthie im Übungsraum ausgedacht, während nebenan Kuhn gerade noch mit seiner anderen Band Karies probte.
Das „Fake“-Kapitel des Nerven-Pop-Entwicklungsromans wurde dann in der Toskana in einem mobilen Studio von Ralv Milberg aufgenommen. Weil es jede Menge technische Probleme, eine halbe Lebensmittelvergiftung, ein paar Sinnkrisen gab, und weil Max Rieger inzwischen selbst als Produzent erfolgreich ist (er saß zum Beispiel beim neuen Drangsal-Album an den Reglern), war die Arbeit an dem Album für alle Beteiligten ein Härtetest: „Ralv tut mir im Nachhinein ein bisschen leid“, sagt Rieger, „der muss mit mir einiges aushalten.“ Doch das Ergebnis gibt dann doch allen recht. „Fake“ ist präziser, dramaturgisch raffinierter, intensiver und variationsreicher als alle bisherigen Platten der Nerven. Alles falsch gemacht. Alles richtig gemacht.
„Fake“, das neue Album der Nerven, erscheint am 20. April
Am 27. April stellt die Band das Album in Schorndorf in der Manufaktur vor.