Jedermanns Darling: Stuttgarts Post-Punk-Noise-Rock-Combo Die Nerven Foto: Sander Baks

Berlins Hipster haben ein Problem. Ihre Lieblingsband kommt aus Stuttgart. Also ausgerechnet aus der Stadt, die bisher nur für Kehrwochen-Witze gut war. Und allen, die Stuttgart-Klischees lieben, machen Die Nerven jetzt mit ihrem sensationellen dritten Album „Out“ das Leben noch etwas schwerer.

Stuttgart - Nein, Stuttgart ist nicht das neue Seattle. Nein, Die Nerven sind nicht die neuen Nirvana. Sie sind auch nicht Teil einer Jugendbewegung, nicht das Sprachrohr dauerfrustrierter Orientierungsloser, nicht der Beweis, dass Stuttgart mehr zu bieten hat, als Mercedes, Porsche und Deutschrap, ihr Noise-Rock ist für die Generation Y nicht das, was der Grunge für die Generation X war. Die Nerven sind einfach eine verdammt gute Band. Nicht mehr, nicht weniger.

Unberührt vom Hype, der seit rund einem Jahr um die Band gemacht wird, in der er Bass spielt und singt, mustert Julian Knoth die Karte vom Café Hüftengold. „Ist ziemlich teuer hier“, sagt er. Er hat Hunger, kommt gerade aus Hagen und hat sich bei seiner Ankunft am Stuttgarter Hauptbahnhof über all die Dirndl und Trachten gewundert („Ich hatte ganz vergessen, dass gerade Wasen ist“). Im Rucksack hat er eine etwas unförmige Trophäe – den Preis den Die Nerven gerade als bester Act vom Verband unabhängiger Musikunternehmer verliehen bekommen haben. Und nachher geht es gleich zur nächsten Preisverleihung. Im Wizemann werden Die Nerven den Music Award Region Stuttgart für ihr Album „Fun“ aus dem Jahr 2014 erhalten.

Musizieren in einem Assoziationskosmos

Ein Kapitel, das die Band längst hinter sich gelassen hat, schließlich ist jetzt der Nachfolger „Out“ erschienen . Eine störrische Platte, voller Zorn, Frustration, Bitterkeit, Ungeduld, aber auch voller Liebe. Irgendwie zumindest. „Max und ich verstehen unsere eigenen Liedtexte zu wenig, um sagen zu können, worum es in ihnen geht“, sagt Knoth. Max, das ist Max Rieger, der heute nicht kann, weil er nicht nur bei den Nerven singt und Gitarre spielt, sondern auch Tourdrummer für Levin Goes Lightly ist. Dritter Mann bei den Nerven ist Schlagzeuger Kevin Kuhn, der glaubt, im Gegensatz zu den anderen beiden zu wissen, worum es in deren Texten geht: „Ich interpretiere mir einfach was zusammen“, sagt er, „vielleicht liege ich damit aber auch jedes Mal völlig falsch.“ Tatsächlich sind Die Nerven Meister der Verdichtung, vertonen mit ihrem Noise-Rock-Post-Punk-Amalgam ein Lebensgefühl, das nicht zwischen dem Politischen und dem Privaten unterscheidet, das stets diffus, verschwommen bleibt, nie eineindeutig wird.

Wie schon auf den vorherigen Alben findet die Musik der Nerven in einem Assoziationskosmos statt, in dem man auf Sonic Youth und Fugazi, die Fehlfarben und Tocotronic trifft. „Unsere Arbeitsweise erinnert manchmal an Puzzlespiel“, sagt Knoth. Neu ist aber, dass Die Nerven tanzen gelernt haben. Und damit ist nicht der langsame Walzer „Hast du was gesagt?“ gemeint, mit dem das Album zu Ende geht, sondern der zickig-zackige New-Wave-Disco-Groove, der immer wieder durch die Nummern auf „Fun“ zuckt. Am deutlichsten in dem Song „Barfuß durch die Scherben“, der das Zeug zum Indie-Smashhit hat. Bei der Arbeit an „Out“ haben Die Nerven, wenn sie nicht gerade über die Band Die Goldenen Zitronen gestritten haben, oft die Musik von LCD Soundsystem, von Death From Abvoe 1979, von !!! gehört. „Streber-Disco“ oder „Nerd-Disco“ nennen Kuhn und Knoth die Musik, die dem neuen Nerven-Album den zickig-zackigen Groove eingetrichtert hat.

Die ungewöhnlichste Musik kommt immer aus Vororten

Knoth isst einen Käsekuchen, Kuhn bestellt einen Espresso Macchiato. Und beide geben sich Mühe, sich nicht von den Superlativen beeindrucken zu lassen, mit denen sie ständig konfrontiert werden. „Spiegel Online“ hat ihr Album „Fun“ als „eine der wichtigsten und besten deutschsprachigen Platten dieses Jahrzehnts“ bezeichnet, die „taz“ erklärte Die Nerven zur „besten Liveband des Landes“ , und der „Musikexpress“ vergleicht Stuttgart wegen der vielen Bands, die sich im Umfeld der Nerven tummeln, sogar mit der Grunge-Metropole Seattle.

„Ich weiß nicht, ob das passt, ich war noch nie in Seattle“, sagt Kuhn, „aber das Seattle-Ding war ja, dass die Leute dort angefangen haben Musik zu machen, weil die meisten Bands auf ihren Touren nie bis nach Seattle kamen. Man war gezwungen sein eigenes Ding zu machen. Stuttgart ist ein Stück weit genauso.“ Außerdem kamen die meisten Bands, die man mit Seattle verband, gar nicht wirklich aus Seattle, sondern aus den umliegenden Käffern. „Ich glaube Vororte waren schon immer die Wiege für ungewöhnliche Musik“, sagt Knoth, der später noch bei seinen Eltern in Reichenbach vorbeischauen wird.

Vertonungen wütender Melancholie

Er hat ihnen viel zu erzählen. Die Nerven sind viel getourt im vergangenen Jahr. Sie mussten zwar auch grüne Erbsenpampe auf Toast als Verpflegung und Übernachtungen in Matratzenlagern überstehen, spielten aber auch „einige geschichtswürdige Auftritte“ (Knoth), traten beim Roskilde Festival vor 2000 Leuten auf und sind durch Isreal gereist. „Wird sind dort sofort in der Undergroundszene untergetaucht“, sagt Kuhn und schwärmt von dem israelischen Noisoduo Laila, das Die Nerven in Tel Aviv kennengelernt haben. Das Lied „Wüste“, das Rieger geschrieben hat, ist mit seiner wütenden Melancholie ein Überbleibsel der Israelreise. „Immer wenn eich den höre, habe ich die Isreal-Bilder im Kopf“, sagt Knoth.

Zu den Nerven-Fans zählen inzwischen nicht nur sämtliche Popjournalisten in Deutschland, sondern auch der Chefredakteur des britischen Magazins „Uncut“ oder John Bramwell, der Sänger und Songwriter der Band I Am Kloot. „Die Nerven sind das beste das ich gesehen habe, seit die Pixies auf ihrer ersten Tour im Vorprogramm von My Bloody Valentine spielten“, hat er gesagt.

Hype-Diskussionen werden übertönt

Bramwell hat gerade wieder eine Mail geschickt. Er kenne einen, der vielleicht eine England-Tournee für Die Nerven organisieren könnte, schreibt er. „Jetzt heißt es den Atem anhalten“, sagt Kuhn, der sich erst einmal aber darüber freut, dass das Konzert der Nerven am 22. Oktober in Bonn für den WDR-„Rockpalast“ aufgezeichnet wird. Oder darüber, dass ihre neue Platte ihre bisher beste ist: „Als wir ‚Fluidum‘ aufnahmen, hatten wir keine Ahnung, als wir ‚Fun‘ aufnahmen, waren wir alle durch den Wind“, sagt Knoth“, „als wir ‚Out‘ aufgenommen haben, waren wir dagegen entspannt, gut eingespielt, hatten genug Erfahrung gesammelt, damit die Platte so klingen kann, wie sie klingen soll.“

Wütend ist die Band zwar immer noch. „Wir haben inzwischen aber auch Songs, die einem mehr Gefühlsregungen abverlangen als Wut“, sagt Kuhn. Songs, die bitterschön, grimmig und aufrührerisch sämtliche Diskussionen über Stuttgart, Seattle und den nächsten Hype übertönen sollten.