Szene aus „Die Möwe“ im Schauspielhaus Stuttgart Foto: Birgit Hupfeld

Regisseur Martin Laberenz streicht für seinen Blick auf „Die Möwe“ die Frage nach Komödie und Tragödie und sagt: dies kann nur eine Komödie sein, weil die Figuren so lachhaft wenig Sorgen haben.

„G 49.“ – „Hab’ ich!“. – „N 39.“ Schweigen. „G 28.“ Gemurmel. „O 63.“ – „Hab’ ich!“ – „I 18.“ – „Hab’ ich!“ Konzentrierte Ödnis. Minutenlang. Alle machen mit beim Bingospielen, die Provinzler ebenso wie die berühmten Gäste – Schauspielerin Arkadina und ihr Liebhaber, der Schriftsteller Trigorin. Selbst die Nachwuchsdarstellerin Nina ist dabei, obwohl da Trigorin sitzt, der sie verführt hat und mit dem inzwischen gestorbenen Kind sitzen ließ.

Hier leben? Nein danke. Das sagt sich nur einer in Anton Tschechows „Die Möwe“, das am Freitag im Schauspielhaus Stuttgart die Saison eröffnete: Arkadinas Sohn Konstantin, ein junger Dichter.

Er verschwindet fast unbemerkt. Gestrichen der Schluss, in dem man einander zuflüstert, dass Konstantin sich erschossen hat, währenddessen Mutter über Komödie und Tragödie schwadroniert.

Kunst brauch Revolution

Der Abgang zeugt in seiner scheinbaren Bescheidenheit von größtmöglichem Pathos. Die Sympathien für die Figuren sind klar verteilt an diesem Abend: die einzig nicht lächerliche Figur ist Konstantin. Er hat immerhin versucht, die Kunst zu revolutionieren, sieht sich aber mit einer zynisch gelangweilten Gesellschaft konfrontiert, die nur damit beschäftigt ist, an alten Formen festzuhalten und die Zeit totzuschlagen.

Regisseur Martin Laberenz streicht die Frage nach Komödie und Tragödie und sagt: dies kann nur eine Komödie sein, weil die Figuren so lachhaft wenig Sorgen haben. Der Arzt (Paul Grill) ist vom Leben müde, der Lehrer (Christian Schneeweiß) ist einfältig, der autoritäre Gutsbesitzer (Robert Kuchenbuch) und seine Frau (Abak Safaei-Rad) und die alkoholkranke Tochter Masche (Caroline Junghanns) sind reiche Landeier.

So sehen sie auch aus. Außer Konstantin, der einen legeren Anzug trägt, kostümiert Aino Laberenz diese Gesellschaft als geschmackloses Volk. Diva Arkadina (Cristin König) schmückt ihren Hut mit (fremden) Federn, Schriftsteller Trigorin (Manuel Harder) versteckt sich hinter der Sonnenbrille, alle anderen trampeln in ihren starr wirkenden, schlecht sitzenden Roben herum.

Wenig Figurenführung

Die Regie hat für die Figuren wenig übrig, nicht für ihr Unglück, ihre Verlogenheit, dafür, dass jeder jemanden liebt, der jemanden anderen liebt. Bloß keine Menschelei. Tschechows Figuren sind aber immer dumm und klug gleichzeitig, schön und hässlich, bemitleidens- und hassenswert. Wer die Tiefe der Figuren nicht anerkennt, dem bleibt nur das Klischee. Dass das Kleine, das Lächerliche immer auch für das Ganze, die große Weltverlorenheit steht, übersieht Laberenz. Die Schauspieler sehen das schon. Cristin Königs Arkadina und Peter René Lüdicke als ihr Bruder liefern sich einen grandiosen lustig-schaurigen Streit über Geld und Leben und Schauspielerei. Mit Wonne keifen sich Mutter und Sohn an – Arkadina beschimpft Konstantin in Angela Schanelecs flapsiger Übersetzung als „Langweiler, Versager, Null“, worauf er sie zur „Scheißmutter“ macht und sie ihm jegliches Talent abspricht: „Geh basteln!“

Was die Regie hingegen interessiert, ist der Theaterkommentar, die alte und immer aktuelle Frage nach neuen Formen in der Kunst. Doch auch dazu fällt dem vielgefragten jungen Regisseur wenig ein. Vieles will er nicht, und was er will, ist wenig. Was er dem Text hinzufügt? Das, was im Stück von 1896 schon enthalten ist, ein Kommentar zur eigenen Kunst. Tschechow lässt in seinem handlungsarmen Stück die Schauspielerinnen Nina und Arkadina schimpfen, dass in Konstantins Theater Handlung fehlt. Der Lehrer wiederum verlangt, dass man doch auch über Leute wie ihn schreiben sollte – was Tschechow mit „Platonow“ getan hat. Laberenz wiederum dichtet lediglich die in jeder Provinzinszenierung längst obligatorischen Theaterkommentare hinzu. Der Regisseur, der zuletzt eine fünfstündige Inszenierung von Dostojewskis Roman „Der Idiot“ im Stuttgarter Kammertheater zeigte, lässt über Zuschauer ätzen, die angeblich keine Fremdtexte und keine Schreierei mögen und leicht konsumierbare 90-Minuten-Abende verlangen.

Übermächtiges Bühnenbild

Laberenz’ Ablehnung des Realismus, des bürgerlichen Theaters beschränkt sich weitgehend darauf, auf Samowargemütlichkeit zu verzichten und die Musikerin Friederike Bernhardt Schubidu-Synthesizermusik spielen zu lassen. Den Rest besorgt das Bühnenbild von Volker Hintermeier, das ständig vom ohnehin nicht inszenierten Geschehen ablenkt. Auf dem schrägen Plateau lässt es sich vorzüglich stolpern und herunterrutschen. Man sieht funktionslose Wasserspiele und Pflanzensymbolik. Bühnenbeherrschend: eine schwarze Distel, auf die man krabbeln kann und die federnd nachgibt, wenn man sich an sie lehnt und miteinander herumfummelt.

Die Distel ist das Bühnenbild für Konstantins von allen verlachtes neues Stück – und das Bühnenbild für Laberenz. Für zwei Unverstandene. Die Distel ist Märtyrersymbol für den distelumkränzten Jesus, steht für irdische Mühsal, Leid, geistige und körperliche Vertrocknung. Wild, gefährlich, stachelig will diese Distel wirken. Und ist so schlaff und harmlos wie diese Inszenierung. Entsprechend müder Applaus nach dreieinhalb Stunden.

Weitere Aufführungen: 7., 12., 23. Oktober, 3., 9., 17. November, 4., 29. Dezember. Karten: 07 11 / 20 20 90.