Arabische Welt zwischen Tradition und Moderne: Eröffnung der künstlichen Insel The Palm Jumeirah in Dubai Foto: dpa

Wie ist das Verhältnis der arabischen Welt zur Moderne? Ein amerikanischer und ein deutscher Wissenschaftler offenbaren ein verblüffendes Selbstverständnis.

Stuttgart - Ein Thema, beleuchtet aus zwei Perspektiven, einer amerikanischen und einer deutschen. Das ist das Konzept der Reihe „Head to head“, die das Stuttgarter Literaturhaus seit 2012 gemeinsam mit der American Academy Berlin veranstaltet. Die aktuelle Ausgabe hätte mehr verdient gehabt als die knapp zwei Dutzend anwesenden Besucher, denn es ging um ein Problem, das in den letzten Jahren die Schlagzeilen beherrscht hat: die arabische Welt und ihr Verhältnis zur Moderne - allerdings konzentriert auf den exemplarischen Fall der arabischen Dichtung.

Diese Konzentration rechtfertigten die beiden Referenten des Abends, der Literaturwissenschaftler Robyn Creswell von der Yale University und der Kölner Literaturkritiker und Übersetzer Stefan Weidner, mit einer alten arabischen Maxime: „Die Dichtung ist die Chronik der Araber.“ Die Poesie, so Robyn Creswell in seinem den Abend einleitenden Impulsreferat, sei in der arabischen Welt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Königin der Künste gewesen, das bevorzugte Medium der kulturellen Selbstvergewisserung. Diese zentrale Bedeutung der Dichtung habe, so Creswell, „die Dichter de facto zu den Wächtern des arabischen Erbes gemacht; deshalb rührt die Frage nach der Modernität ans Herz ihres Selbstverständnisses“. Erst in den letzten Jahrzehnten bekamen sie in dieser Funktion Konkurrenz durch neue Medien und Kunstformen: Romane, Kino, Graffiti oder Rap.

In der Beduinen-Lyrik der vorislamischen Zeit gab es eine klassische Konstellation: Der Dichter trifft auf einen verlassenen Lagerplatz; dieser erinnert ihn an ein vergangenes Ereignis, das an diesem Ort stattgefunden hat, etwa die Begegnung mit einer Geliebten oder eine Schlacht. Dieser verlassene Ort setzt beim Dichter einen Prozess der Erinnerung in Gang, in dem er das Vergangene und Verlorene beschwört und vergegenwärtigt.

Untergang und Wiedergeburt im Spannungsverhältnis

Eine Haltung, die auf den ersten Blick konservativ, ja nostalgisch anmutet, wie Pamela Rosenberg als Moderatorin des Abends zu bedenken gab. Doch Robyn Creswell widersprach diesem Eindruck, beharrte vielmehr auf dem Doppelgesicht dieser dichterischen Strategie. Indem der Dichter die Vergangenheit beschwört, will er aus ihr zugleich einen Impuls für die Zukunft gewinnen. Es sei symptomatisch, so Creswell, dass T. S. Eliots Langgedicht „The Waste Land“, das Ende der 1950er Jahre ins Arabische übersetzt wurde, im Nahen Osten lange das einflussreichste Gedicht aus dem modernen westlichen Kanon gewesen sei, weil es aus Sicht der arabischen Leser genau dieses von ihnen empfundene Spannungsverhältnis zwischen Untergang und Wiedergeburt zum Ausdruck brachte.

Stefan Weidner wies darauf hin, dass einer der bei uns bekanntesten arabischen Lyriker, nämlich der 1930 in Syrien geborene und heute im Pariser Exil lebende Ali Ahmad Said, einen Künstlernamen gewählt hat, der an einen antiken Wiedergeburtsmythos erinnert: Adonis. Dieser Dichter, den Weidner ins Deutsche übersetzt hat und über den Creswell gerade eine größere Studie schreibt, wird von beiden als herausragender Repräsentant der modernen arabischen Dichtung angesehen. Eine von Adonis in den 1950er Jahren in Beirut gegründete Literaturzeitschrift habe ihre Leser durch Übersetzungen mit wichtigen Werken der modernen westlichen Dichtung bekannt gemacht und erstmals eine Poesie propagiert, die im Metrum und im Reimschema von den bisher herrschenden Konventionen abwich.

Auf der Suche nach einer besseren Moderne

Gleichzeitig behauptete Adonis, im Zeitalter von Harun al Raschid in Bagdad habe es schon eine arabische Poesie gegeben, die es mit der westlichen Moderne aufnehmen könne, etwa in den Dichtungen von Abu Nuwas (757–815), der so etwas wie ein arabischer Baudelaire gewesen sei. Seine Gedichte waren urban und kosmopolitisch, frivol und obszön, handelten vom Weingenuss und von der Knabenliebe. Die Araber, so lautete die These von Adonis, brauchen deshalb die westliche Moderne nicht zu kopieren, sondern müssen nur ihre bisher von einer falschen Orthodoxie verdeckte Tradition wiederentdecken, in der sie eine eigene, alternative Version der Moderne finden können. Eine Version, in der das Zerstörerische der technisch-industriellen Moderne fehlt, denn Adonis hatte auch die westliche Kulturkritik rezipiert und sich dabei beispielsweise auf Martin Heidegger berufen.

Robyn Creswell und Stefan Weidner wissen freilich auch, dass Adonis ein umstrittener Dichter ist, wie sich zuletzt im vergangenen Jahr bei der Verleihung des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises an ihn gezeigt hat. Kritisiert wurde damals, dass Adonis im syrischen Bürgerkrieg zumindest indirekt für den Machthaber Assad Partei ergriffen hat, weil er die syrische Revolution von 2011 mit dem Argument ablehnte, die syrische Gesellschaft sei noch nicht reif für eine Revolution. Creswell meinte dazu, die skeptische Haltung von Adonis rühre möglicherweise daher, dass er sich 1979 zuerst für die iranische Revolution engagiert habe und dann ein Jahr später seinen Irrtum eingestehen musste.

Der Antipode zu Adonis’ Programm einer Erneuerung der arabischen Dichtung aus dem Geist des hermetischen Modernismus war, so Stefan Weidner, der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch (1941-2008), der eine politische, klassenkämpferische und antiimperialistische Poesie propagierte. „Unsere Gedichte sind geschmacklos, farblos“, lautete sein poetologisches Programm. Doch Darwisch ist tot und Adonis ein alter Mann, der schon lange fern seiner arabischen Heimat in Paris lebt. Wenn allein diese beiden die Hoffnungen der modernen arabischen Poesie verkörpern sollen, dann sieht es schlecht aus für sie, resümierte ein Zuhörer im Literaturhaus am Ende des Abends die Ausführungen der beiden Referenten.