Vom süditalienischen Dorf San Luca aus hat sich die ’Ndrangheta ausgebreitet. Foto: AP

Nirgendwo in Deutschland leben mehr verdächtige Mitglieder der Mafia als in Baden-Württemberg. Doch hierzulande fehlt ein „Mafia-Paragraf“, wie ihn der italienische Staat längst eingeführt hat. Das macht die Strafverfolgung schwierig.

Stuttgart - Der Zugriff war sorgsam vorbereitet. Am frühen Morgen des 7. Juli 2015 stürmten SEK-Einheiten aus sechs Bundesländern Wohnungen in Singen, Rielasingen und Engen (Kreis Konstanz) sowie in Ravensburg. Acht mutmaßliche Mitglieder der Mafiaorganisation ’Ndrangheta wurden festgenommen. Stolz vermeldete die Polizei anschließend den Erfolg ihrer Operation „Rheinbrücke“ als wichtigen Schlag gegen Schläfer der Mafia am Rückzugsort Deutschland.

Keine vier Monate später war alle Euphorie verflogen. Das Oberlandesgericht Karlsruhe ordnete die Freilassung der Männer aus der Abschiebehaft an. Grund: Der Tatzeitraum, um den es ging, reichte länger als fünf Jahre zurück; alle Vorwürfe waren damit verjährt. Ein komplizierter Großeinsatz der Polizei war zunichtegemacht durch die Langsamkeit der Justiz. Der Ärger in Ermittlerkreisen hallte noch lange nach.

Rund 550 mutmaßliche italienischstämmige Mafiamitglieder leben nach Angaben des Bundeskriminalamts aktuell in Deutschland. Die meisten von ihnen, nämlich rund 140 Personen, haben ihren Wohnsitz in Baden-Württemberg. Nach Angaben des Landeskriminalamts (LKA) in Stuttgart zählen rund 70 Männer zur kalabrischen ’Ndrangheta, die als mächtigste Mafia-Organisation Italiens gilt, sich bereits weltweit ausgebreitet hat und nach Expertenschätzungen jährlich hohe zweistellige Milliardenumsätze erzielt. Jeweils 30 Verdächtige im Südwesten gehören der sizilianischen Organisation Stidda und der Camorra mit dem Zentrum Neapel an. 15 Männer verorten deutsche Ermittler bei der sizilianischen Cosa Nostra. Die Häufung im Südwesten hält das LKA für wenig verwunderlich. Sie habe mit dem hohen Anteil italienischstämmiger Familien aus der Zeit der Anwerbung von Gastarbeitern in den 60er Jahren zu tun, heißt es. Im Jahr 2014 lebten in Deutschland 764 000 Menschen mit italienischen Wurzeln, davon 28 Prozent in Baden-Württemberg. Neuere Zahlen gibt es nicht.

Es kommt selten zu Festnahmen oder Ermittlungsverfahren

Die Namen von Verdächtigen haben deutsche Behörden allesamt von italienischen Strafverfolgungsbehörden übermittelt bekommen. Doch zu Festnahmen oder überhaupt erst einmal Ermittlungsverfahren kommt es selten. Drei bis fünf Verfahren seien im Durchschnitt der vergangenen Jahre eingeleitet worden, sagt ein Sprecher des Landeskriminalamts: „Baden-Württemberg ist nicht nur Rückzugsraum, sondern auch Aktionsraum.“ Täter seien im Rauschgiftgeschäft aktiv, verübten Betrugsdelikte, begingen Markenfälschungen oder verbreiteten Falschgeld.

Die Strafverfolgung in Deutschland ist so schwierig, weil hierzulande ein „Mafia-Paragraf“ fehlt, wie ihn der italienische Staat längst eingeführt hat. Danach kann bereits die Zugehörigkeit zu einer mafiösen Vereinigung unter Strafe gestellt werden. Doch italienische Haftbefehle, die auf diesen Paragrafen gründen, haben wegen der Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme kaum Chancen, in Deutschland in einen internationalen Haftbefehl umgewandelt zu werden, solange nicht auch konkrete Einzelstraftaten benannt werden. Auslieferungen müssen in der Regel unterbleiben. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordert deshalb schon seit Jahren die Einführung des Mafia-Paragrafen auch in Deutschland.

Die heimische Wirtschaft wird klammheimlich unterhöhlt

Käme es so, wäre es wohl auch leichter, die Legalisierung von Geldern aus Schutzgelderpressungen, Menschen- und Drogenhandel zu unterbinden. Durch Beteiligungen oder den Kauf von Restaurants, Cafés oder ganz allgemein von Immobilien werden Mafiosi unbemerkt zu scheinbar legalen deutschen Unternehmern; die heimische Wirtschaft wird klammheimlich unterhöhlt. „Der Verdacht ist naheliegend. Allein, das zu beweisen ist nicht einfach“, sagt der Sprecher des Landeskriminalamts.

Zunehmend tummeln sich Mafiaverdächtige auch in der Baubranche, nehmen sogar an Ausschreibungen öffentlicher Bauträger teil. In Italien können bei Mafiaverdächtigen noch im Ermittlungsverfahren Vermögenswerte beschlagnahmt werden; die Betroffenen müssen nachher beweisen, dass ihr Geld rechtmäßig erworben wurde. Anders in Deutschland. „Letztlich müssen wir auch beweisen, dass das Geld aus illegalen Quellen kommt“, sagt der LKA-Sprecher. Seit vielen Jahren sind die Verdächtigenzahlen im Südwesten konstant. Da tut es besonders weh, wenn die wenigen Chancen auf eine Verbesserung der Situation vertan werden. So wie im Zusammenhang mit der Operation Rheinbrücke. Kaum waren die ’Ndrangheta-Leute auf freien Fuß gekommen, tauchten sie ab.