Szene aus „Der Lage“ Foto: Björn Klein

Schöne neue Immobilienwelt: Im Stuttgarter Kammertheater besorgt Tina Lanik die Uraufführung „Der Lage“, des neuen Stücks von Thomas Melle. Es handelt vom Wohnen als neue soziale Frage – und vom kommenden Aufstand der Verzweifelten.

Stuttgart - Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Und was ist, um Brecht weiter zu denken, das Besetzen von Häusern gegen das Wuchern mit Häusern? Es ist: Notwehr. Und in Notwehr, in verschiedenen Phasen des Aufbäumens und Revoltierens, befinden sich am Ende alle Wohnungssucher in Thomas Melles jüngstem Stück „Die Lage“, das die Wohnungsnot als neue soziale Frage zum Thema hat und in Dutzenden von Variationen umspielt. Der Dramatiker spannt den Bogen von der Hoffnung auf eine Wohnung über die Demütigungen bei Drei-Zimmer-Küche-Bad-Besichtigungen bis hin zum kommenden Aufstand der Verzweifelten, der sich allerdings nur in ratternden, knatternden Ego-Shooter-Phantasmagorien vom Häuserkampf im Bürgerkrieg austobt. Trotzdem: So explosiv ist die Lage, die titelgebend weit mehr meint als den Standort im gentrifizierten Szeneviertel.

 

Der Stoff von Thomas Melle ist heiß. Wohnungsnot herrscht in allen Städten, auch in Stuttgart; das Rumoren ist so unüberhörbar wie der Ruf nach Enteignung der Wohnkonzerne, nicht nur in Berlin. Mit heißer Nadel hat der Dramatiker seine musikalisch zersplitterte, jetzt in Stuttgart uraufgeführte Szenenfolge dennoch nicht gestrickt. Das merkt man an der gründlichen Recherche, die auch auf eigener Erfahrung beruhen dürfte: Der unter einer bipolaren Störung leidende Autor, der in seinem Roman „Die Welt im Rücken“ aus seiner Krankheit große Kunst macht, war zeitweise von Obdachlosigkeit bedroht. Das schärft den soziologischen Blick auf das Sujet, der sich bei Melle mit der Fertigkeit paart, es literarisch auch adäquat umzusetzen. Wie in einem Kaleidoskop ordnet er seine scharf konturierten Momentaufnahmen zu immer neuen Mustern des mal sanften, mal grellen Horrors der Wohnpolitik im Zeichen des Neoliberalismus: „Das System wird sich hochschrauben und kollabieren/Vorher aber kollabieren die Menschen in ihrer konkreten Situation/Und das protokolliere ich.“

Tanz ums goldene Objekt

Diese zutreffende Selbstauskunft legt der Autor einer seiner Figuren in den Mund, einer Journalistin auf der Suche nach bezahlbarem Obdach, die auf eine Maklerin trifft, die früher Architektin war und sich jetzt „mit der Erwartungshysterie von irgendwelchen Plastikmenschen“ herumschlägt. Künstlich steril wirkenden Menschen begegnet man nun auch auf der Bühne des coronabedingt nur mit 38 statt 200 Zuschauern besetzten Kammertheater, wo Tina Lanik die Uraufführung „Der Lage“ kongenial besorgt. Die Akteure auf dem Wohnungsmarkt stecken in blauer oder brauner Garderobe – Kostüme: Lara Roßwag und Stefan Hageneier, der auch die Bühne entworfen hat – und vollziehen in ihren Uniformen immergleiche Besichtigungsrituale: ein „Tanz ums goldene Objekt“, angetrieben von den Maklerrufen „Schauen Sie sich um, fühlen Sie sich frei“ und vorgeführt von Robotermenschen, die zu Götzen- und Sonnenanbetern werden. Denn auch das ist als Suchkriterium und Verkaufsargument in hippen Zeiten wichtig: sonnendurchflutete Räume!

Die Bühne ist abstrakt und zeigt eine klinisch weiße Wohnung, in deren Mitte als goldenes Objekt innerhalb des Objekts eine verschiebbare Küchenbadzeile steht, sehr lang und mit einem Spülwaschbecken am Rand. Das Möbel ist das einzige Requisit des auch sonst hochkonzentrierten Abends und könnte als Autopsietisch dienen, zumal die Menschen, die das Objekt begehren, gnadenlos auseinander genommen werden. Zum Beispiel gleich zum Auftakt vom raubtierhaften Seelenzergliederer Jannik Mühlenweg: Für seine WG castet er einen neuen Mitbewohner. Der Körper so biegsam wie die Rhetorik, unterzieht er sein unsichtbares Gegenüber einem sozialdarwinistischen Verhör, dessen freundliche Schärfe anschwillt zum Psychoterror einer Psychosekte.

Hörprobe mit Sexgestöhne

Das Kaleidoskop dreht sich weiter wie die Küchenbadzeile, auf Monologe folgen Dialoge, auf chorische Passagen erzählerische Strecken. Man kennt die Situationen, die Melle/Lanik exemplarisch durchspielen – und man erkennt die Typen darin, die „geborenen Verkäufer mit dem notorischen Berufsoptimismus“ auf Maklerseite, die sich selbst verleugnenden Bittsteller auf Mieterseite. Aber wie schon beim WG-Casting übersteigt die „Lage“ immer wieder geschmeidig die Wirklichkeit und führt in aller Plausibilität hinein in eine dystopische Groteske: Die „Wohneinheit macht von optional wirkenden Sonderauflagen Gebrauch“ und will bei der Auswahl neuer Nachbarn wissen, wie laut sie beim Sex sind. Nach kurzem ungläubigem Zögern stöhnen alle Wohnungssuchenden, was das Zeug hält: Scham, Stolz, Würde sind auf dem Markt hinderlich, weshalb die in Mehrfachrollen zu sehenden Marktteilnehmer Jannik Mühlenweg, Boris Burgstaller, Sebastian Röhrle und Marietta Meguid ihre Haut – mit Einschränkungen – auch nackt zu Markte tragen, um der von Josephine Köhler taff gespielten Immofrau ihre Aufrichtigkeit und Transparenz zu beweisen.

Josephine Köhler ist es auch, die in der insgesamt sehr, sehr starken, zuletzt auch von Wutbürgern bevölkerten „Lage“ den doch stärksten, nachhaltigsten, beeindruckendsten Auftritt hat. Nicht als Immobilienfrau, sondern als Erbin, die Skrupel empfindet ob des ihr zugefallenen, unverdienten Reichtums. Die Beine gespreizt, bringt sie ihn dennoch zur Welt, in einem Geburtsvorgang mit heftigen Geburtswehen, die alle Bedenken beseitigen. Mit solchen und anderen Bildideen überzeugt die Regie von Tina Lanik, die sich in Stuttgart schon einmal als Spezialistin für zeitgenössische Dramatik empfohlen hat, als sie Nis-Momme Stockmanns „Imperium des Schönen“ souverän uraufführte. Jetzt also „Die Lage“ – und Thomas Melle schildert sie so umfassend, so reich an Perspektiven, so aufgeladen mit grimmigem, düsterem, zornigem Humor, dass am Ende kein Zweifel mehr bleibt: Nicht die Menschen suchen Wohnungen, sondern die Wohnungen suchen Menschen – und wenn sie keine passenden finden, werden welche gezüchtet. Das ist die Lage.