Die Griechen freuen sich über den Ausgang des Referendums zur Sparpolitik. Die anderen EU-Staaten freuen sich weniger. Foto: dpa

Aus gutem Grund hat die Kanzlerin bislang Machtworte in der Europa-Politik vermieden. Aber ihr Kurs des Lavierens kommt nun an eine Grenze: Sie muss sich entscheiden.

Berlin - „Sie macht mir mein Europa kaputt.“ Der Satz soll von Helmut Kohl stammen. Raunend macht er die Runde auf den Fluren der Berliner Abgeordnetenbüros. Gemünzt ist er auf Angela Merkel. Der Alt-Kanzler, so heißt es, fürchte, dass Europa zerbröckelt, sich spaltet, in nationale Egoismen versinkt. Und dass niemand da sei, der diesem Prozess Einhalt gebietet. Auch nicht die – angeblich – mächtigste Frau der Welt.

Ist etwas dran an dem harten Urteil, in dem sich ernste Sorge und ein Anflug altväterlicher Besserwisserei die Waage halten mögen? So viel ist sicher: Europa ist in einem jämmerlichen Zustand. Nicht nur wegen Griechenland. Dänemark diskutiert die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. In Ungarn verwandelt ein machttrunkener Regierungschef sein Land in eine seltsame Zwitterform autoritärer Demokratie. In Großbritannien findet im kommenden Jahr ein Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU statt. In zentralen Fragen gemeinsamer Europa-Politik kommt die Gemeinschaft nicht mehr voran. Erst kürzlich endete der Versuch, 40 000 Flüchtlinge per Quote auf alle EU-Mitgliedsländer zu verteilen in beschämenden Abwehrkämpfen. „Ihr verdient es nicht, Euch Europäer zu nennen“, fauchte der italienische Premier Matteo Renzi seine Kollegen schließlich an. Das ist der heutige Umgangston in den Konferenzsälen der Europäischen Union.Und jetzt der Athener Super-Gau. Wie leicht kann der zum Flächenbrand werden: Was passiert denn, wenn „Podemos“ – die neue linke Oppositionsbewegung in Spanien – mit der Forderung eines Referendums nach griechischem Vorbild der eigenen Kampagne zusätzlichen Schwung verleihen möchte?

Wer kann diesen Erosionsprozess stoppen? Klar, Deutschland und Frankreich, das Herzstück geglückter europäischer Integration. Aber Frankreich ist von einer langen innenpolitischen Krise gelähmt. Bliebe Deutschland – reich, stabil, mächtig. Wer sonst? Wer sonst als Angela Merkel? Aber sie konnte bislang nicht liefern.

Ist das eine angemessene Sicht? Boulevardmedien und Magazine zeichnen gerade das Bild der Kanzlerin auf einem Scherbenhaufen. Sie selbst zeichnet ein anderes Bild. Neulich erst im Bundestag. Europa sei „robuster“ geworden, weil Deutschland Krisenmechanismen durchgesetzt habe, vor allem aber, weil es die Partner auf einen Grundsatz verpflichten konnte: „Solidarität gegen Reformen“. Und tatsächlich: In Irland, Portugal, Spanien und Zypern bewährte sich der Grundsatz. Merkel hat das erreicht. Sie ist stark.

Oder doch nicht? Es gibt die andere Seite. Als nach der Europa-Wahl die neue EU-Kommission zu formieren war, wollte sie Jean-Claude Juncker um jeden Preis verhindern. Sie hielt den Christdemokraten im Kern für einen verkappten Sozialdemokraten. Sie konnte seinen Weg an die Kommissionsspitze nicht aufhalten. Das war ein erster Fingerzeig. Und im Griechenland-Konflikt? Da hielt sich Merkel öffentlich auffallend zurück. Verständlich, einerseits. Sie wollte nicht, dass Deutschland im Süden Europas als kalter Vollstrecker einer schmerzhaften Reformpolitik gesehen wird. Aber bis zuletzt verfolgte die Kanzlerin einen unklaren Kurs, ließ Hintertüren offen, öffnete immer neuen Kompromissen die Tür. Kein Machtwort, nirgends. Ob sie die Griechen lieber innerhalb oder außerhalb des Euros sieht, ist bis heute unklar. Ist es also doch ihr Scherbenhaufen? Was auffällt: Ihr Koalitionspartner SPD steht eisern zu ihr. Rolf Mützenich, der Chef-Außenpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion, sagt unserer Zeitung ganz unumwunden: „Ein SPD-Kanzler würde gegenüber Griechenland keine prinzipiell andere Politik betreiben.“

Aber nun muss sich Merkel entscheiden. Mit dem Ausgang des griechischen Referendums kann die alte Merkel-Strategie des Offenhaltens und Lavierens nicht mehr länger gutgehen. Die griechische Tragödie führt auch die Kanzlerin in eine tragische Situation: Egal, wie sie sich entscheidet – es fordert Opfer. Entweder sie will die eiserne Sparkanzlerin bleiben – dann steht dem griechischen Volk eine schwere Zeit bevor. Oder sie opfert zugunsten der Einheit Europas einen Teil ihrer Grundsätze – was mindestens bei den deutschen Wählern einen gewaltigen Image-Schaden bedeuten würde.

Vielleicht hilft ihr die Bundestagsfraktion der Union bei der Entscheidung. Dort, deutet man die Stimmung richtet, braucht sie gar nicht erst mit dem Versuch aufzutauchen, die Parteifreunde für irgendeine Form weiterer Hilfspakete zu begeistern. „Für mich gibt es keine Basis für weitere Verhandlungen mit Athen“, sagt Carsten Linnemann, der Chef der Mittelstandsvereinigung unserer Zeitung. „ Das Vertrauen ist komplett zerstört.“ Auch der junge thüringische Abgeordnete Mark Hauptmann hält die „Stimmung für gefestigt“: Kein Mensch in der Fraktion, sagt er, „würde ein drittes Programm mittragen“.

Und die Kanzlerin? Lässt ihren Sprecher mitteilen, dass es „weiter Gesprächsbereitschaft gibt“. Gestern Abend traf sich Merkel mit dem französischen Staatspräsidenten. Heute dann ein neuer Gipfel. „Griechenland ist am Zug“, sagt der Sprecher noch. Aber ist die Zeit des Abwartens nicht vorbei? „In einer sich immer schneller verändernden Welt geht es uns Deutschen nur gut, wenn es auch Europa gut geht“, steht auf Merkels Homepage. Deshalb liege es in unserem Interesse, „wenn wir anderen in Europa helfen“. Aber solche Hilfe mache nur Sinn, „wenn sich alle in Europa anstrengen, ihre Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen und mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen.“

Tja, klingt gut. Aber was heißt das jetzt? Helmut Kohl leidet. Zerfällt sein Europa, dass er immer als Friedensprojekt gesehen hat? Die Union leidet auch. Verlässt die Kanzlerin doch noch die Prinzipien der schwäbischen Hausfrau? Die Griechen leiden erst recht. Wer weiß ihnen einen Weg? Ziemlich viele Fragen und keine Antworten.

Angela Merkel ist krisenerfahren. Die schwerste Krise ihrer Partei war der Anfang ihres atemberaubenden Aufstiegs. Manche sagen, die Griechenlandkrise ist nun der Beginn eines langen Wegs zum Machtverlust. Aber darauf wetten sollte man nicht.