Die Digitalisierung verändert die Welt. Bundeskanzlerin Angela Merkel macht beim „Treffpunkt Foyer“ unserer Zeitung klar, dass sich das auch auf die schulische Bildung auswirken wird.
Stuttgart - Terror, Kriegsgefahr, Flüchtlingsströme: Die Welt ist in Aufruhr. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aber bleibt zumindest äußerlich besonnen. Auch in Wahlkampfzeiten scheint sie nichts aus der Ruhe zu bringen. Optimismus statt Pessimismus, diplomatischer Dialog statt klarer Kante, europäische Lösungen statt nationalen Alleingängen, digitaler Mut statt analoger Bedenken – geduldig wirbt sie für diesen Weg. Ihren Weg. Auch am Dienstagabend in der Stuttgarter Liederhalle. Bereits um 19.25 Uhr betritt Merkel die Bühne, begleitet von den Chefredakteuren Christoph Reisinger (Stuttgarter Nachrichten) und Joachim Dorfs (Stuttgarter Zeitung). Wie immer trägt sie eine dunkle Hose, wie immer einen farbigen Damenblazer. Diesmal ist er rot. Merkel nickt mehrmals freundlich ins Publikum, verbeugt sich und schüttelt Stuttgarts grünem OB Fritz Kuhn die Hand. Unter herzlichem Applaus der rund 1700 Zuhörer im voll besetzten Beethovensaal setzt sie sich.
Und während vor der Liederhalle rund 150 S-21-Gegner demonstrieren, geht es innen beim „Treffpunkt Foyer“ unserer Zeitung natürlich zuerst um die Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Klar, bundesweit hängen rund 800 000 Arbeitsplätze dran, viele davon in Baden-Württemberg. In Stuttgart drohen nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts ab 2018 zudem Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge. Merkel sagt, man werde alles dafür tun, dass es keine Fahrverbote gebe.
Merkels Triebkraft
Die erst am Montag beschlossene Aufstockung des Mobilitätsfonds auf eine Milliarde Euro für Kommunen sei „gut“, das Geld allein sei aber „nicht die Lösung“. Doch was ist die Lösung? Merkel muss passen. Diese müsse erst noch erarbeitet werden. Für die Zwischenzeit fordert sie kleine Schritte, vor allem aber ein „gewisses Schuldbewusstsein“ bei den Autoindustrie und eine schnelle Software-Nachrüstung. Sie habe „die Hauptverantwortung, das wiedergutzumachen.“ Ungewohnt offen räumt Merkel ein, dass es auch ihr schwerfalle, zu glauben, was gesagt werde nach all dem, was passiert sei.
Gleichwohl ist der Kanzlerin bewusst, dass das Vertrauen zwischen Kunden und Herstellern „nicht auf Knopfdruck“ wiederhergestellt werden kann und es parallel dazu um die Zukunft einer der zentrale Säulen der deutschen Wirtschaft geht. „Wenn wir den Wohlstand halten und mehren wollen, müssen wir jetzt die Voraussetzungen schaffen“, sagt sie. Die Zeiten in Deutschland, sie sind fordernd. Aber genau das hat Merkel motiviert, für eine vierte Amtszeit anzutreten. „Meine Triebkraft ist, dass es Deutschland auch weiter gutgeht“, antwortet sie auf eine Leserfrage. Sie habe das Gefühl, dass sie mit ihrer Mischung aus Erfahrung und Neugierde einen Beitrag leisten könne für die nächsten Jahre.
Spätestens 2021 soll es eine Lerncloud geben
Vor allem der digitale Wandel treibt Merkel um. Sie macht sich viele Gedanken, was er zum einen für die Wirtschaft, zum anderen für die Gesellschaft für Folgen hat. Und so räumen die Moderatoren Reisinger und Dorfs dem Thema einen breiten Raum ein. Merkel kündigt Investitionen beim Glasfaserausbau und eine digitale Verwaltung in Form eines Bürgerportals an, in dem Dienstleistungen von Bund, Ländern und Kommunen online angeboten und abgewickelt werden. Entscheidend sei der gemeinsame Wille aller Beteiligten, die rechtlichen Voraussetzungen habe man bereits geschaffen. Bis 2022 soll das Bürgerportal fertig sein.
Noch schneller will Merkel bei der Digitalisierung von Schulen sein. Spätestens in vier Jahren sollen die Gebäude allesamt ans Breitband angeschlossen sein, dafür wolle man das finanzielle Engagement von Seite des Bundes gegebenenfalls aufstocken. Und spätestens in vier Jahren soll es eine sogenannte Lerncloud geben, auf die alle Schulen zugreifen können und in der der Bund Unterrichtsmaterial anbieten will. Weil das Thema Bildung eigentlich Ländersache ist, betont Merkel, dass es nur ein Angebot sei und man den Ländern nicht vorschreiben werde, ob sie es annehmen wollen oder nicht. Eines ist für die Kanzlerin aber unerlässlich: dass die Lehrer weitergebildet und die Kinder auf die digitale Arbeitswelt vorbereitet werden. Einfache Formen des Programmierens sollen künftig in allen Schulformen gelehrt werden. Schulabsolventen sollen zumindest in Grundzügen wissen und nachvollziehen können, wie ein Robotor funktioniert. Eine schwierige Aufgabe sei darüber hinaus, jungen Menschen schon heute nahezubringen, welche Berufe morgen noch eine Zukunft haben. Mit Blick auf den Akademisierungstrend – rund die Hälfte aller Schulabgänger beginnt mit einem Studium – warnt sie aber auch davor, das duale Ausbildungssystem auszuhöhlen. Im Beethovensaal brandet Applaus auf.
„Hoffnung in Afrika erzeugen“
Die Zeiten, sie sind aber nicht nur in Deutschland fordernd. Auch in außenpolitischen Fragen verdeutlicht sie, dass sie auf Dialog statt klarer Kante setzt. So kündigt sie zwar an, dass es mit der Türkei keine Verhandlungen für eine Erweiterung der Zollunion mehr gebe. Was die Beitrittsverhandlung zur Europäischen Union (EU) angeht, plädiert sie für Zurückhaltung und eine europäische Lösung. Sie wolle vor einer Entscheidung erst mit den europäischen Partnern sprechen, wie man vorgehe – ob man die Verhandlungen nur aussetze oder ganz abbreche. Es wäre aus ihrer Sicht nicht hilfreich, wenn Europa sich über diese Frage zerstreitet.
Auch die Zuwanderung aus Afrika will die Kanzlerin zügig eindämmen. Zum einen mit der Hilfe von Niger und Libyen im Kampf gegen kriminelle Schlepper, zum anderen mit einer besseren Entwicklungspolitik, um die Ursachen für die Migrationsbewegung zu bekämpfen. „Wir müssen in Afrika so viel Hoffnung erzeugen, dass sich junge Menschen gar nicht erst auf den Weg nach Europa machen“, sagt sie. Merkel wirkt auch hier entschlossen, die Herausforderungen angehen zu wollen.
Beim Wahlkampfauftritt in Heidelberg fliegen Tomaten
Nicht mal mehr drei Wochen sind es noch bis zur Bundestagswahl. Und es scheint in diesen Tagen, als seien die Würfel schon gefallen und Merkel könne auch in den nächsten vier Jahren ihren Schreibtisch im Bundeskanzleramt beziehen. Zu souverän kontert sie alle Angriffe und aufkeimende Kritik – im TV-Duell am vergangenen Sonntag, bei Wahlkampfveranstaltungen wie am Dienstag in Heidelberg, wo Tomaten flogen, und nicht zuletzt beim „Treffpunkt Foyer“ in der Liederhalle. In Umfragen liegt die Union seit Wochen stabil zwischen 37 und 40 Prozent, die SPD mit ihrem Herausforderer Martin Schulz kommt derzeit auf maximal 24 Prozent. Was, bitteschön, kann da noch anbrennen für die ewige Merkel?