Guter Plan, schlecht umgesetzt: Cem Özdemir scheitert bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden Foto: dpa

Eine schwache Partnerin und eine bräsige Fraktion haben Cem Özdemir das Comeback verhagelt, meint unser Kommentator Wolfgang Molitor. Probiert es der grüne Schwabe nun doch noch in Stuttgart?

Stuttgart - Er hat es machen müssen. Einer, der wie Cem Özdemir so lange in der Politik unterwegs ist, der so viel von grünen Empfindsam- und Zwanghaftigkeiten weiß, es wie kaum ein anderer in der Partei auf strahlende Höhen schaffte und in dunkelste Tiefen stürzte, sich immer wieder berappelnd zu einem prägenden Kopf der Grünen geworden ist, der spürt, wann er springen muss, um nicht liegen zu bleiben. Der 53-Jährige wird genau beobachtet haben, wie sich in Bund und Ländern die Gewichte zwischen den Parteien verschieben. Wie die Grünen zur stärksten Kraft hinter oder neben der Union werden, an der Regierungsbildungen scheitern oder gelingen.

Unverschuldeter Rückschlag

Es wird ein Wort geben, dass Özdemir wohl nicht mehr hören kann: Jamaika. Der Mann aus Bad Urach, der 1994 der erste Bundestagsabgeordnete mit türkischen Eltern war, war bei der Bundestagswahl 2017 gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt Spitzenkandidat und galt als Außenminister auf grüner Seite so gut wie gesetzt – ehe das unerprobte Bündnis an der politischen Kurzsichtigkeit der FDP im letzten Moment scheiterte. Es war der wohl größte unverschuldete Rückschlag in Özdemirs Karriere. Die in der Rückschau erfolgreichen zehn Jahre als Co-Parteichef gerieten schnell in Vergessenheit. Was blieb, ist der Vorsitz im Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. Rang statt Loge.

Bemüht nach innen

Gut möglich, dass er Özdemirs Bewerbung um den Fraktionsvorsitz sein letzter Versuch war, zurück auf die große Parteibühne zu kommen. Claudia Roth, die 2008 als Özdemirs Co-Vorsitzende gewählt wurde, hat es sich – mit monatlichen 14 300 Euro plus Zulagen – als Bundestagsvizepräsidenten auf dem politischen Altenteil gemütlich gemacht. Seine Nachfolger Annalena Baerbock und Robert Habeck sind längst die neugierig machenden Gesichter. Und die Bundestagsfraktion? Bemüht nach innen, schwach nach außen, auch von der öffentlichen Wahrnehmung die kleinste im Bundestag – Özdemir hat richtig erkannt, wo er den Hebel ansetzen musste, um seine Fraktionstruppe aufzurütteln und seiner Karriere noch einmal Schwung zu verleihen. Doch der klugen Analyse folgte eine erschreckend dilettantische Umsetzung.

Schwache Partnerin

Mit einer schwachen Bremer Partnerin an der Seite, die als Linke gegen die Realo-Vertreterin Göring-Eckardt von Beginn an auf verlorenem Posten stand, hatte es Özdemir in der kurzen Bewerbungszeit nie geschafft, das flügelverkrustete Handeln und Denken einer unbeweglichen Fraktion aufzubrechen, die ebenfalls den Anschluss an neue politische Entwicklungen zu verpassen droht. Sein Appell zum Aufbruch klang matt – und nicht wenige in der unaufgeregt unzufriedenen Fraktion dürften sich gefragt haben, warum sie da einen revitalisieren sollte, der das Kandidatengerangel um die nach der kommenden Bundestagstagswahl erwarteten Kabinettsposten noch aufreibender machen dürfte. Dann lieber weiter im eigenen Saft schmoren.

Doch noch Stuttgart?

Immerhin: Özdemir hat es versucht. Aber er hat verloren. Dass er ein anderes Kaliber ist als der Retro-Linke Anton Hofmeister, wird ihn nicht trösten. Die Grünen vergeuden ein großes Talent, weil ihre Fraktion weiter linke Flügelschläger bedient und – anders als die Partei – nicht willens ist, ideologische Scheuklappen abzulegen. Das sollte nicht nur im Stammland Baden-Württemberg dem ein oder anderen Grünen-Wähler, der mit einem öko-bürgerlichen Kurs liebäugelt, zu denken geben. Aber wer weiß schon , was kommt? Vielleicht könnte Özdemir sich jetzt ja doch noch mit dem Gedanken tragen, seiner Karriere in Stuttgart statt in Berlin das Krönchen aufsetzen zu lassen.

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