100 Punkte in einem NBA-Spiel. Unvorstellbar und bis heute unerreicht: Wilt Chamberlain. Foto: AP

Dirk Nowitzki ist dabei, Wilt Chamberlain in der All-time-Scoring-Liste der NBA zu überholen. Der Deutsche wäre dann der sechsterfolgreichste Punktesammler der NBA-Geschichte. Über Nowitzki ist mehr oder weniger alles gesagt – aber wer ist eigentlich dieser Wilt Chamberlain über den Scottie Pippen sagt, er sei der beste Basketballer aller Zeiten? In unserer Bildergalerie finden Sie die besten Scorer der Geschichte.

Stuttgart - Dirk Nowitzki ist auf dem Weg, den großen bzw. noch größeren Wilt Chamberlain zu überholen und damit der sechsterfolgreichste Punktesammler der NBA-Geschichte zu werden. Nowitzki hat seinen Legendstatus längst zementiert – aber wer ist dieser Wilt Chamberlain, dessen Name immer dann durch die Gazetten geistert, wenn einer der NBA-Superstars heiß läuft und es heißt: „Das hat es seit Wilt Chamberlain nicht mehr gegeben.“

NBA-Fans wissen in aller Regel: Chamberlain, das ist der Typ mit dem 100-Punkte-Spiel. Dass der 2,16 Meter große Center die NBA dominierte wie kein anderer, er eine der bewegtesten Karrieren der Geschichte hatte, Muhammad Ali mit ihm kämpfen wollte und der Mann bis heute 72 NBA-Rekorde hält, wissen hingegen nur die wenigsten. „Für mich ist er der größte Spieler aller Zeiten“, sagt Scottie Pippen über den zweimaligen NBA-Champion. Eine bemerkenswerte Einschätzung. Immerhin gewann Pippen sechs Titel an der Seite eines gewissen Michael Jordan. Aber wieso weiß man so wenig über die Center-Legende, dessen 30,07 Punkte-Karriere-Durchschnitt bis heute ausschließlich von Michael Jordan (30,12) übertroffen wurde?

Neider und der Rassenproblematik

Nun, Chamberlain ist seit 1999 tot. Er stirbt mit gerade einmal 63 Jahren an Herzversagen. Daher kann er sich nicht mehr wie all die anderen Altstars zum aktuellen Geschehen äußern und sich den Fans ins Gedächtnis rufen. Aber dass Chamberlain nicht die Anerkennung zu Teil wird, die seine einzigartige Karriere verdienen würde, ist kein Phänomen der Neuzeit. Im Gegenteil: Schon zu seiner aktiven Zeit hat der zweimalige MVP mit Neidern, der öffentlichen Erwartungshaltung und seiner Rolle in der afroamerikanischen Gesellschaft zu kämpfen. Man könnte auch sagen: An außergewöhnliche Spieler werden außergewöhnliche Ansprüche gestellt – ein Phänomen, von dem auch die heutigen Superstars LeBron James oder James Harden ein Lied singen können. Gut scheint meistens nicht gut genug.

Um die Geschichte Chamberlains greifen zu können, muss man in die USA der 50er-Jahre zurückgehen. Es herrschen Rassentrennung und Diskriminierung. In manchen Staaten mehr, in anderen weniger. Und Chamberlain, obwohl 1936 im eher liberalen Pennsylvania geboren und aufgewachsen, weiß: Je weniger er in der Rassenfrage aneckt, desto weniger Probleme bekommt er. Eine Vorgehensweise, die beispielsweise auch Michael Jordan bis heute wählt – schließlich kaufen auch Trump-Wähler seine Schuhe. Wer will es sich da mit denen verscherzen?

Kein Zutritt für Schwarze

Eine Anekdote aus der College-Zeit sticht heraus: Nach drei Highschool-Titeln und Rekorden in allen relevanten Statistiken wollen Universitäten aus dem ganzen Land den 2,16 Meter-Riesen bei sich aufnehmen. Chamberlain entscheidet sich für die Kentucky University. Bei den Jayhawks heißt das Ziel: Titelgewinn. Und Chamberlain will liefern. In einer Stadt, in der ihm vor seinem ersten Spiel der Eintritt in ein Lokal verwehrt wird. Begründung: „Wir bedienen keine Schwarzen.“ Chamberlain aber will keinen großen Aufriss um den offenkundigen Rassismus machen: „Wir sind hier eben nicht in Pennsylvania“, sagt er zu einem Teamkollegen. Der offenen Ablehnung antwortet er auf seine Weise: In seiner ersten College-Partie macht er 52 Punkte – bis heute gültiger Punkterekord an der University of Kentucky.

Dass er nicht offensiver mit der Rassenthematik umgeht, monieren Führer der afroamerikanischen Gesellschaft bis heute. Er hätte sich nicht genug für ihre Belange eingesetzt, so der Vorwurf. „Damit tut man ihm unrecht“, verteidigt ihn sein ehemaliger Mitspieler, der Hallo-of-Famer Gail Goodrich noch heute. „Er tat viel für Minderheiten – gerade auch finanziell, was damals keine Selbstverständlichkeit war. Aber im persönlichen Umgang war ihm einfach egal, welche Hautfarbe Du hast.“ Und man dürfe nicht vergessen, dass es damals alles andere als selbstverständlich war, sich öffentlich gegen Rassismus auszusprechen – schließlich sprechen wir vom Jahr 1956.

Die erste von vielen Endspielniederlagen

Chamberlain dominiert die Collegesaison, im Endspiel 1957 unterliegen seine Jayhawks aber in der dritten Verlängerung gegen die University of North Carolina. Und obwohl Chamberlain zum MVP gekürt wird, stellen die Medien seine Saison ob des verpassten Titels als Enttäuschung dar. Im Jahr darauf verpasst Kansas gar die Play-offs, Chamberlain verlässt die Universität und schließt sich für ein Jahr und 60 000 Dollar Gehalt den Harlem Globetrotter an, wo er das doppelte verdient als der damals bestbezahlte NBA-Spieler. „Er war eine Sensation. Dunken, passen, rebounden – er konnte Dinge, die noch keiner vor ihm gemacht hat und dabei war er so ein Riese. Aber er war eben kein Clown“, sagt sein Trotters-Mitspieler Marc Hannibal.

Dass er für den Start seiner NBA-Karriere in die Heimat zurückkehren würde, ist bereits vor seiner College-Zeit klar. Die Warriors in Philadelphia hatten ihn gedraftet, noch bevor er jemals einen Korb für die Kansas City Jayhawks geworfen hatte. Sein NBA-Debut lässt sich wie folgt zusammenfassen: Er kam, sah und siegte. Also fast. Seine Rookie-Zahlen sind bis heute eine Sensation: In seinem ersten Spiel macht er 43 Punkte und holt 28 Rebounds. Am Ende der Spielzeit überbietet er mit 2707 Punkten den damals gültigen Punkterekord von 2105 Punkten (Bob Pettit), ebenso wie den Reboundrekord (1612) von Bill Russell mit 1941 Rebounds. Macht im Schnitt 37,6 Punkte und 27 Rebounds pro Spiel. Nicht ohne Grund wird er sowohl zum Rookie of the Year als auch zum MVP gewählt – als erster Spieler der NBA-Geschichte.

Epische Duelle mit Bill Russell

In den Play-offs scheitern Chamberlain und die Warriors an den Boston Celtics um den als besten Defensivspieler der Geschichte geltenden Bill Russell. Es sollte nur die erste von unzähligen Play-off-Niederlagen gegen Russells Celtics werden. Ein Hauptgrund für das Aus: Chamberlain trifft seine Freiwürfe nicht. Ein „mentales Problem“ macht der bei sich aus. Die Medien nehmen das Bild vom „soften Chamberlain“ gerne auf – ein Narrativ, das er für den Rest seiner Karriere nicht mehr loswerden sollte. „Er war ein überragender schwarzer Mann, der die weiße NBA im Sturm übernahm“, sagt der heutige Miami-Heat-Präsident Pat Riley über seinen späteren Lakers-Mitspieler. Dementsprechend hätten große Teile der Medien nur auf Angriffspunkte bei Chamberlain gewartet.

Obwohl er in den Folgejahren einen Rekord nach dem anderen bricht, er 1962 grotesk anmutende 50,2 Punkte im Schnitt macht und zudem sein legendäres 100-Punkte-Spiel abliefert, muss der Hüne bis 1967 warten, ehe er seinen ersten NBA-Titel gewinnen kann. Immer wieder scheitert er an den Celtics, Jahr für Jahr ist die Truppe um seinen Freund Bill Russell zu stark für die Warriors, die 1962 nach San Francisco umsiedeln. „Auch wenn in den Medien behauptet wurde, Bill hätte Wilt bezwungen, hätte man richtigerweise schreiben müssen: Boston war wieder zu stark für die Warriors“, sagt sein damaliger Mitspieler Tom Gola. „Wir haben Wilt im Stich gelassen.“

„Niemand ist für Goliath“

Dass es die Medien gerne anders darstellen, ärgert Chamberlain, wenngleich er in der Öffentlichkeit Verständnis äußert: „Niemand ist für Goliath.“ Den Umzug 1962 nach San Francisco macht er mit, wechselt aber 1964 nach Philadelphia zurück, wo die 76ers ihre neue Heimat haben. Und Chamberlain 1967 endlich den heiß ersehnten Titel in der Heimat abliefern kann. „Auftrag ausgeführt“, soll er grinsend zu einem Mitspieler gesagt haben.

Er spielt noch ein Jahr für die 76ers, ehe er sich 1968 nach Los Angeles traden lässt. Er ist der erste in einer Riege der ganz großen Stars in Lila und Gold und legt damit den Grundstein für das Selbstverständnis eines ganzen Vereins. Zudem ist L.A. gut fürs Geschäft – das weiß auch Chamberlain. Werbeverträge, ein Buch schreiben und sein Image verkaufen – der Center weiß, wie die Medien ticken, auch wenn ihn die Öffentlichkeit nicht liebt. Dass er in seiner Biographie behauptet, mit 20 000 Frauen geschlafen zu haben, bereut er zwar später. Ein Kassenschlager wurde das Buch dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb.

Chamberlain findet seinen Frieden in L.A.

Chamberlains Dominanz in der Liga lässt nach, obwohl er immer noch Jahr für Jahr zu den besten Scorern der NBA gehört. Knieprobleme machen ihm zu schaffen – und verhindern auch einen der abstrusesten Boxkämpfe der Geschichte. Kein anderer als Muhammad Ali fordert Chamberlain heraus. Auch in Alis Augen setzt sich der Basketballer nicht genug für die Schwarzen in Amerika ein, dass er zudem Präsident Richard Nixon im Wahlkampf unterstützt, bringt für viele Afroamerikaner das Fass zum Überlaufen – und natürlich stört es Ali, dass er nicht der uneingeschränkte Superstar der damaligen Zeit ist. Nicht ein Mal, nicht zwei Mal – drei Mal in fünf Jahren arbeiten beide Seiten an einem Vertrag über einen Titelkampf. Dass er nicht zustande kommt, gehört zu den wenig gescheiterten Vorhaben der beiden Ausnahmekönner.

Lesen Sie hier die Geschichte der Los Angeles Lakers.

1972 gewinnt Chamberlain mit den Lakers den zweiten Titel seiner Karriere, ein Jahr später macht er Schluss mit Basketball – mit seiner Rolle als verkannter Star hat er längst seinen Frieden gemacht. Bis an sein Lebensende bleibt er in Los Angeles, Geldsorgen bekommt der gewiefte Geschäftsmann nie. Auch in diesem Bereich ist er Wegbereiter für die späteren Superstars um Larry Bird, Magic Johnson oder Michael Jordan. Die NBA veränderte er für immer: Regeländerungen wegen seiner Dominanz und Größe, Rekorde für Ewigkeit, selbst die öffentliche Wahrnehmung der NBA hob er auf ein neues Level.

Vieles, was heute normal ist, wäre ohne Chamberlain unvorstellbar. Dass kaum jemand darüber spricht, ist schwer zu erklären. Zum Glück versuchen sich immer wieder Stars an seinen Rekorden – schließlich ist es das einzige Mal, dass der Name Chamberlain noch durch die Medien geistert. Schade eigentlich…

In unserer Bildergalerie finden Sie die besten Scorer der NBA-Geschichte. Viel Spaß beim Klicken.