Die Familie Kim lebt, durchaus metaphorisch gemeint, im Tiefparterre und strebt nach oben: Szene aus „Parasite“ Foto: Verleih

Erstmals gewinnt beim wichtigsten Filmpreis ein nicht-englischsprachiges Werk. Satirisch beleuchte das Sozialdrama „Parasite“ aus Südkorea soziale Unwuchten.

Stuttgart - Sie hätten den „Joker“ wählen können, die Geschichte eines Gedemütigten, der zum Gewalttäter wird – doch die Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences haben ein anderes Sozialdrama zum besten Film gekürt: das südkoreanische Werk „Parasite“ über die findigen, perspektivlosen Mitglieder einer unterprivilegierten Familie, die sich als Dienstboten in eine wohlhabende Familie einschleichen. Der „Joker“ ist womöglich „too close to home“, wie die Amerikaner sagen, zu nah an der eigenen Realität – der Cannes-Gewinner „Parasite“ dagegen eine universelle Parabel.

Es ist ein historischer Moment, als Jane Fonda dem Regisseur Bong Joon Ho die goldene Statuette überreicht. Seit 1929 werden Oscars für den besten Film vergeben, und noch hat ein nicht-englischsprachiger gewonnen – nicht Jean Renoirs „Grande Illusion“ (1938), nicht Costa-Gavras’ „Z“ (1969), nicht Roberto Benignis „Life Is Beautiful“ (1998), nicht Michael Hanekes „Amour“ (2012) und auch nicht Alfonso Cuaróns „Roma“ (2019). „Parasite“ nun hat auch noch die wichtigen Preise für beste Regie, das beste Original-Drehbuch sowie den Auslands-Oscar abgeräumt.

Der Preisträger wünscht sich eine Kettensäge

Tosender Applaus begleitet Bong Joon Ho auf die Bühne im Dolby Theatre in der Oscar-Nacht von Sonntag auf Montag. Und der dankt Martin Scorsese, der in der ersten Reihe sitzt und an diesem Abend leer ausgeht mit seinem zehnfach nominierten Gangster-Epos „The Irishman“, er dankt Quentin Tarantino („Once upon a Time in Hollywood“) und Todd Philipps („Joker“) und wünscht sich „eine Texas Chainsaw“, um den Oscar mit ihnen zu teilen. Das kommt an, die Film-Prominenz, ist offensichtlich zufrieden. Hollywood hat ein Zeichen der Offenheit gesetzt, der Diversität und der Wertschätzung für andere Kulturen – genau entgegengesetzt zur Abschottung, die der aktuelle US-Präsident Donald Trump betreibt.

Die Academy steckt im Diversifizierungsprozess, ist aber immer noch mehrheitlich alt, weiß und männlich. Wie schon in den Vorjahren gab es wieder Vorwürfe, diesmal, weil kaum Frauen nominiert waren – auf Twitter nachzulesen unter dem Hashtag #OscarsSoMale (OscarsSoMännlich). Nun hat die Academy mit einem Coup bewiesen, das ihr Blick auf die Welt keineswegs verengt ist.

Die Botschaft ist ziemlich revolutionär

„Parasite“, dramaturgisch dicht inszeniert und voller überraschender Momente, zeigt die soziale Spaltung im Kapitalismus. Wie die USA setzt auch Südkorea auf viel Markt und wenig Staat – und „Parasite“ zeigt das Hauen und Stechen der weder dummen noch unwillligen Unterprivilegierten ums nackte Überleben in einer reichen Gesellschaft. Diese Botschaft ist für amerikanische Verhältnisse und selbst fürs sozialliberale Hollywood ziemlich revolutionär – politisch ist das Thema Umverteilung bei linken demokratischen Präsidentschaftsbewerbern wie Bernie Sanders und Elizabeth Warren zu Hause, die nicht alle für mehrheitsfähig halten.

Die Stimmung bei der Gala ist diesmal eher ausgelassen, die auch schauspielende Sängerin Janelle Monáe spielt in einem Eröffnungs-Medley die Filme des Jahres musikalisch durch und huldigt dabei afroamerikanischen Künstlern und Regisseurinnen. Dann witzeln – vorher nicht angekündigt – die ehemaligen Oscar-Moderatoren Steve Martin und Chris Rock, darüber, dass sie die Nominierten nun als degradierte Nicht-Moderatoren begrüßen sollen. Dabei ziehen sie ordentlich vom Leder: „Was fehlt in der Kategorie beste Regie?“, fragt Martin – und Rock antwortet: „Vaginas.“ Martint: „1929 waren keine schwarzen Schauspieler nominiert.“ Rock: „Und jetzt im Jahr 2020 auch nicht.“

Brad Pitt äußert sich zum Impeachment

Die vier Schauspiel-Oscars gehen alle an die Favoriten, die Hauptdarsteller Renée Zellweger als Judy Garland in „Judy“ und Joaquin Phoenix als gedemütigte Kreatur in „Joker“, die Nebendarsteller Laura Dern als geschmeidige Scheidungsanwältin in „Marriage Story“ und Brad Pitt als abgehalfterter Stuntman in „Once upon a Time in Hollywood“. Laura Dern dankt in einer emotionalen Rede ihren Eltern, dem Schauspielerpaar Diane Ladd und Bruce Dern. Phoenix, der erst neulich mit Martin Sheen bei Janes Fondas wöchentlicher Klima-Demo in Washington festgenommen wurde, nützt die Bühne, um sich für eine menschenwürdige Tierhaltung auszusprechen. Pitt spielt auf das gescheiterte Impeachment gegen Trump an und die Weigerung der republikanischen Senatoren, Zeugen vorzuladen: „Man hat mir gesagt, ich hätte nur 45 Sekunden hier – das sind 45 Sekunden mehr, als der Senat diese Woche John Bolton gegeben hat.“ Taika Waititi, der erste maori-stämmigen Oscar-Preisträger fürs beste adaptierte Drehbuch zu seiner liebevoll verstörenden Hitlerjugend-Farce „Jojo Rabbit“, widmet den Preis allen „Ureinwohnern der Welt“.

Beim Dokumentarfilm-Oscar bestätigt sich, dass dieser Jahrgang politischer ist als andere. In „American Factory“, den ersten Film der Produktionsfirma von Barrack und Michelle Obama, zeigen Steven Bognar und Julia Reichert, wie ein chinesisches Unternehmen eine Fabrik für Autoscheiben in Ohio übernimmt – und bald sämtliche Arbeits- und Sozialstandards zu kippen versucht. Jane Fonda bringt die Stimmung des Abends auf den punkt, als sie den Oscar für den besten Film übergibt: „Nichts ist wichtiger, als ein Bewusstsein zu wecken, stimmt’s?“

Im Kino: „Parasite“: Delphi und Gloria (auch OV, schwarzweiß), „Jojo Rabbit“: Delphi und EM (auch OmU), „1917“: Delphi und Gloria (auch OV)