Die Überfliegerin des Jahres: Adele Foto: Columbia Records

Während sich die Politik und die Wirtschaft mit einer Frauenquote schwertun, hat der Pop des Jahrgangs 2015 dieses Problem glücklicherweise überhaupt nicht. Die Redaktion hat ihre Lieblingsalben gekürt.

Stuttgart - Pop im Jahr 2015 ist Frauensache. Nicht nur wegen Adele, die im November mit „25“ Verkaufsrekorde brach und mit ihrer großen Stimme Fans und Kritiker begeisterte. Auf den Bestenlisten des Jahres finden sich auf vorderen Plätzen so viele Frauen wie selten zuvor. Dort tummeln sich beispielsweise Querköpfe wie Björk, CocoRosie, Joanna Newsom und Grimes oder Empfindlichkeitskünstlerinnen wie Julia Holter – und auf keiner Liste fehlt „Sometimes I Sit And Think, And Sometimes I Just Sit“, das sperrig-skurrile Debüt Courtney Barnetts.

Und was ist mit den Männern? Als Lieblinge der Kritiker der Musikmagazine haben sich neben Kendrick Lamar („To Pimp A Butterfly“), Sufjan Stevens („Carrie & Lowell“), Father John Misty („I Love You, Honeybear“) oder Tame Impala („Currents“) auch Die Nerven aus Stuttgart und ihr Album „Out“ erwiesen.

Welche Alben die Kritiker unserer Zeitung im Jahr 2015 am besten fanden, lesen Sie hier.

Joanna Newsom: Divers (Drag City/Rough Trade)

Joanna Newsom Foto: Getty Images

Entrückt, freigeistig, empfindlich, episch überkandidelt, tiefgründig, verworren, poetisch, zart, enthusiastisch und unerträglich schön – die harfespielende Songwriterin Joanna Newsom versammelt auf ihrem neuen Album Kammerpopsuiten, die ihre Magie zwischen Kunstlied und Folkballade entfalten. Die Stücke auf „Divers“ sind so fein und dicht gewebt, so grandios orchestriert, dass man die Platte wieder und wieder hören muss, um ihr alle Geheimnisse zu entlocken, um all die prächtigen Details der Erzählung in der Inszenierung zu entdecken. Wer Musik am liebsten schlicht und schnörkellos mag, lässt besser die Finger von diesem Album. Wer in einen Assoziationskosmos entführt, verblüfft, betört, verzaubert werden will, der wird sich unrettbar in diese Lieder verlieben. (Gunther Reinhardt)

Blur : The Magic Whip (Parlophone/Warner)

Das schrammelige „I Broadcast“ bietet das perfekte Rückwärtsgefühl: Da ist man wieder im Jahr 1993, als „Modern Life Is Rubbish“ veröffentlicht wurde. Heute ist klar: Das moderne Leben ist Müll. Blur wussten Bescheid. Man kann es kaum glauben, dass Graham Coxon und Damon Albarn wieder gemeinsam Musik machen. Die ersten Skizzen zu „The Magic Whip“ entstanden in China, als Konzerte abgesagt wurden und sie die Zeit zwischen Hotelbett und Pool mit Musikmachen verbrachten. So kam es also zu „The Magic Whip“. Was für ein glücklicher Zufall. Was für ein Album, das in jeder wunderbaren Sekunde überrascht, sich so bekannt anfühlt, klug, lustig und traurig zugleich ist. Bei all der Melancholie freut man sich, dass Blur so würdevoll im Jahr 2015 angekommen sind. (Anja Wasserbäch)

Deichkind : Niveau weshalb warum (Sultan Günther Music)

Deichkind Foto: dpa

„Niveau weshalb warum“ heißt die Scheibe, „Wer uns fragt, bleibt dumm!“ stellen Deichkind im albumtitelgebenden Song auch gleich klar. Die Vorgängerplatte „Befehl von ganz unten!“ war unübertrumpfbar. Doch die Hamburger ElektroRapper mit den irren Live-Shows und dem Hang zum Bierbauchpennertum zauberten wieder eine großartige Melange aus Erste-Welt-Kritik und Gute-Laune-Hymnen. Die im Titel „Like mich am Arsch“ verunglimpfte Sozialnetzwerkwelt likte, retweetete und teilte eben jenes Lied wie verrückt. Das Faszinosum Deichkind: Von diesen Pseudoprolls lässt man sich den Spiegel einfach gerne vorhalten. (Cornelius Oettle)

Fat Freddy’s Drop: Bays (The Drop/Indigo)

Während „Fish In The Sea“ mit ruhigen Bläsersounds beginnt und sich nach fünfeinhalb Minuten in einen bassdominierten Afro-Funk verwandelt, wechselt „Slings & Arrows“ schon nach wenigen Sekunden von hüpfenden Oldschool-Computerspielklängen zum groovigen Reggae-Sound. Spielerisch-komplex finden die Arrangements zusammen, fließen die Musikstile der Neuseeländer ineinander. Dazu die unverwechselbare Stimme Dallas Tamairas: Weich und zugleich ausdrucksstark fügt sie sich ein in die Keyboard- und Gitarren-, in die Trompeten-, Saxofon- und Posaunenklänge. „Bays“ ist ein Album, bei dem man nie weiß, was als Nächstes passiert. Und das einfach wahnsinnig viel Spaß macht. (Melanie Maier)

Michael Wollny: Nachtfahrten (Act)

Michael Wollny Foto: ACT

Er hat sich besänftigt, seine Wildheit gezügelt, der deutsche Ausnahmepianist Michael Wollny (37) – und spielt nun statt hoch verdichteten, überbordenden Avantgarde-Jazz blumig ausladende Nocturnen. Die Dunkelheit funkelt, wenn er mit Christian Weber (Bass) und Eric Schaefer (Drums) Angelo Badalamentis „Questions In a World Of Blue“ („Twin Peaks“) interpretiert und das französische Volkslied „Au clair de la lune“, wenn sie in besinnlichen Eigenkompositionen schwelgen wie „Der Wanderer“ (Wollny) oder „Ellen“ (Schaefer). Spannungsgeladen, aber gar nicht schwer klingt die Nacht auf diesem harmonisch einladenden Album, das Entschleunigung und innere Einkehr atmet. Erzählmusik, die auch Nicht-Jazz-Hörer betören kann. (Bernd Haasis)

We Are The City: Violent (Sinnbus/Rough Trade)

Im Frühjahr tourten We Are The City durch Deutschland, zugleich erschien ihr Album „Violent“ auch in Europa. Es ist der Soundtrack zu einem Film, der in Kanada mit Preisen ausgezeichnet, in Cannes gelobt wurde, und zugleich ein eigenständiges Independent-Rock-Album, das sehr viel zu bieten hat: wuchtig gesetztes Schlagzeug, eine zurückhaltende und doch in den Lärm verliebte Gitarre, schwelende, progressive Keyboards, kühles Klicken, Melodien, die unter einer harten Schale einfach schön und faszinierend sind, traurig und hoffnungsvoll. Die Frage ist spannend: Was wird diese Stadt als Nächstes tun? (Thomas Morawitzky)

Lana del Rey: Honeymoon (Vertigo/Universal)

Und wieder Lana del Rey. Wie schon 2014 st

Lana del Rey Foto: Getty Images Europe

eht die Königin des verkommenen West-Coast-Pop oben auf meinem Treppchen. Die verzerrten Gitarren und verschleppten Drums des Vorgängers „Ultraviolence“ hat sie gegen schwelgerische Retro-Streicher und Nostalgie-Pathos eingetauscht, die Stücke wirken mehr denn je wie der zu langsam abgespielte Soundtrack eines Hollywood-Dramas aus den 1950ern. Lana del Rey haucht, flüstert und summt ihre fiesen doppelbödigen Lieder von Verlangen, Verfall und Verbotenem. „Honeymoon“ klingt wie Flitterwochen in der Entzugsklinik, schmeckt nach Champagner und riecht nach Sünde. Das macht eben niemand besser, niemand ungezwungen lasziver als Lana del Rey. (Björn Springorum)

Lucero: All A Man Should Do (Pias/Rough Trade )

Hier das Klischee: Ein bärtiger Mann mit Trucker-Mütze sitzt am Tresen, nippt importierten Whiskey aus Egal-woher (Hauptsache Schnaps!), dann betritt die schönste Frau der Welt die Kneipe an der Landstraße. Sie weiß auch, was sie will: ihn nicht. Ein anderer am Tresen sagt: „Geile Schnitte!“. Irgendwann kommt die Polizei. Doch Lucero aus Memphis sind mehr als diese selbstgefällige Rock’n’Roll-Romantik von Männern, die nur versagen, um später Lieder darüber schreiben zu können. Den Punk trägt das Septett aus Memphis seit geraumer Zeit nur noch im Herzen – Americana, Country, Honky-Honk und gebremster Kneipenrock sind längst lauter. Es ist die Seele, die „Can’t You Hear Them Howl“, „Baby, Don’t You Want Me“ so unbezahlbar schön macht oder das fantastische „Went Looking For Warren Zevon’s Los Angeles“. (Michael Setzer)

Bob Dylan: Shadows In The Night (Columbia/Sony)

Bob Dylan Foto: dpa

Bob Dylan war schon immer für Überraschungen gut. Eine der größten ist dieses Album, mit dem er Frank Sinatra huldigt. Ausgerechnet Dylan, der rau wie Schmirgelpapier klingt, interpretiert Songs des großen Crooners mit der erotischen Singstimme. Man befürchtet das Schlimmste. Und irrt. Bei seinem 36. Album „Shadows In The Night“ interpretiert Dylan zehn Lieder, die Sinatra gesungen hat, auf eine ganz eigene Weise. So als ob sie in warmem Kerzenlicht erstrahlten. Das Album ist nach „Tempest“ von 2012 wie die Ruhe nach dem Sturm. Begleitet von einem behutsam und samten spielenden Quintett, klingt der 74-jährige Folk-Sänger und Rock-Poet auf einmal selbst viel sanfter. Er nimmt Songs wie „That Lucky Old Sun“, „I’m A Fool To Want You“ oder dem Standard „Autumn Leaves“ die große Las-Vegas-Geste Sinatras und zeigt sie in fragiler Schönheit. So als habe er das Album ganz allein für sich gemacht. (Thomas Staiber)

Boy & Bear: Limit Of Love (Nettwerk/Soulfood)

Das Schlagzeug rollt den roten Teppich aus, und Dave Hoskings Stimme muss nur noch darüber spazieren und das Ganze wie einen bemoosten Waldweg aussehen lassen: Die Folk-Rock-Band Boy & Bear hat den Dreh raus, wenn es darum geht, zahme Popmelodien in Unikate zu verwandeln. Die Songs auf „Limit Of Love“ haben die fünf Musiker aus Sydney direkt im Studio eingespielt. Auch textlich setzen Boy & Bear auf Ehrlichkeit, bereuen und zweifeln, wachen mit schwerem Kopf in fremden Betten auf – desillusioniert, aber mit ungebrochener Lust an der Unvernunft. Der folklorische Kitt ist Hoskings Stimme, die den Text, das klimpernde Keyboard und drei Akustikgitarren beiläufig zusammenführt. (Olivia Mettang)